Wintersport:Scheiden tut nicht weh

11.03.2020, Granasen, Trondheim, NOR, FIS Weltcup Skisprung, Raw Air, Trondheim, Herren, im Bild Sturz Stephan Leyhe (G

Bitterer Abschluss der Saison: Stephan Leyhe fasst sich nach seinem Landesturz in Trondheim ans Knie, er hat sich das linke Kreuzband gerissen.

(Foto: imago)

Verletzungen, Formkrisen, Überalterung: Die zurückliegende Saison 2019/2020 hat trotz einiger Erfolge vor allem die Probleme der deutschen Athleten verdeutlicht - nun richtet sich der Blick auf zwei Heim-Weltmeisterschaften.

Von Volker Kreisl

Steigerungen gibt es in diesem Fall eigentlich nicht, jede Verletzung ist ja sinnlos. Und doch - manche Zerrungen, Knochenbrüche oder Sehnenrisse ereignen sich in einem derart absurden Kontext, dass sie noch etwas sinnloser als sinnlos erscheinen.

Der Skispringer Stephan Leyhe aus Willingen hat vor einer Woche beim Weltcup in Trondheim/Norwegen, als schon lange fast nirgendwo mehr Publikum in den Stadien des Winters zugelassen war, einen grandiosen Flug erwischt. Es war zwar nur die Qualifikation, aber die Geschwindigkeit trug ihn weit hinunter, am Ende jedoch, bei 141,5 Metern, war der Landedruck zu groß. Leyhe stürzte, verdrehte das Knie, ihm riss dabei das Kreuzband. Wenig später wurde coronabedingt der eigentliche Wettkampf abgesagt, und dann auch noch wie in allen anderen Wintersportarten die gesamte Saison vorzeitig beendet.

Die Sportler flogen heim in den Urlaub, Leyhe flog heim zur Operation.

Neben dem persönlichen Rückschlag - bei Skispringern ist das Comeback nach einem Jahr oft besonders schwer - ist Leyhes Sturz auch beispielhaft für diesen gesamten Winter, der ursprünglich an diesem Wochenende mit der Skiflug-WM in Planica/Slowenien und mit all den anderen großen Ski-Abschlussfeten zu Ende gehen sollte. Die sind längst gestrichen, was bleibt, ist der Eindruck einer Saison mit ein paar deutschen Erfolgen und noch mehr Problemen. Die Alpinen Thomas Dreßen und Viktoria Rebensburg, die Biathletin Denise Herrmann und der Skispringer Karl Geiger taten sich hervor. In Erinnerung bleiben aber auch heftige Niederlagen und einige sportliche Rückstände. Wie fast schon üblich war auf mühsam zusammengekratzten Pisten der Klimawandel erkennbar, und schließlich zog sich auch der Sportwinter wegen der Corona-Pandemie verfrüht zurück, als wäre er selber ein am Knie verletzter Athlet, der ohne großes Aufhebens hinausgetragen wurde.

Der Blick richtet sich auf zwei Heim-Weltmeisterschaften: 2021 in Oberstdorf, 2023 in Oberhof

So bleiben nun für den Sommer und den nächsten Winter neben den Auswirkungen der Corona-Krise auch die alten Winter-Sorgen im Vordergrund. Leyhes Sturz hat noch einmal die ganze Misere des Dauerthemas Kreuzbandrisse vor Augen geführt. Alle sind sich einig, dass wenigstens die Landung sicher gestaltet werden muss, solange die Materialursachen für die vielen Verletzungen nicht geklärt sind. Doch trotz dieser Erkenntnis ließ die Jury den Springer Leyhe mit weitem Anlauf in die Spur. Auch wegen solcher Unsicherheiten verzichtet Frauen-Bundestrainer Andreas Bauer auf aggressives Springen und auf allzu starke Keile im Schuh, die das Fliegen zwar optimieren, aber beim Landen hochriskant sein können. "Vom Material her fahren wir eher defensiv", sagt Bauer.

Vier seiner besten Springerinnen erholen sich gerade von Kreuzbandrissen, die sportliche Entwicklung dagegen stimmt im Prinzip. Anders als im Springen haben die meisten anderen Ski-Sparten jedoch ein Qualitätsproblem, und die große Frage nach diesem plötzlich verschwundenen Winter ist: Gelingt es im Ski alpin, in der Nordischen Kombination, im Langlauf und vor allem im Biathlon, rechtzeitig die nächste Generation für die Olympischen Spiele 2022 in Peking fit zu machen?

Sorgen bereiten den Wintersportstrategen vor allem die deutsche Haupt-TV-Disziplin Biathlon. Das Durchschnittsalter der eigenen Medaillenkandidaten wird immer höher, mit 2019/20 kam ein weiteres Jahr hinzu. Die Biathlon-Generation der Anfang-20-Jährigen wurde nicht rechtzeitig gefördert oder hat von selbst aufgegeben, die U20 wiederum braucht noch einige Jahre, um auch vor vollbesetzter Tribüne so cool zu schießen, als wäre friedliches Training. Bernd Eisenbichler, im Biathlon der neue Sportliche Leiter, will das Problem strategisch angehen, was sicherlich richtig ist, aber auch Zeit braucht. Bis zu den nächsten Olympischen Winterspielen werden sich die Ergebnisse aus Biathlon-Camps, aus neuen Technik-Schulen, oder durch den Input eines vielleicht mal ausländischen Trainers noch nicht bemerkbar machen.

Im April, wenn die Sportler sich erholen, stehen normalerweise die langen Strategiegespräche an, was sich in diesen Zeiten wie alles andere um Wochen verschieben dürfte. Dennoch, in diesen Gesprächen werden auch langfristige Szenarien entworfen, weshalb die Zukunft vielleicht doch nicht so düster aussieht, wie manche Ergebnisse dieser Saison zeigten. Denn nicht nur das ferne Peking wird in den Plänen eine Rolle spielen, sondern auch Oberstdorf und Oberhof. Im Allgäu findet im Februar 2021 die Nordische Ski-WM statt, in Thüringen stehen 2023 die Biathlon-Weltmeisterschaften an. Die Aussicht auf ein großes Heim-Publikum dürfte bei Talenten zusätzliche Kräfte im Training entfalten.

Stephan Leyhe wird seine Heim-WM jedoch verpassen, elf Monate reichen normalerweise nicht aus, um zurückzukommen. Trotzdem bleibt die Abteilung Skisprung des deutschen Verbandes weiterhin ein Vorbild an Kontinuität. Sie hat sich vor zehn Jahren ein Technik-Leitbild verpasst, das schon auf Jugendschanzen geübt wurde, weshalb seit Jahren immer wieder verletzte oder formschwache Siegspringer ersetzt werden konnten: erst Severin Freund durch Andreas Wellinger, dann Wellinger durch Markus Eisenbichler, und der durch Karl Geiger, den Gesamtweltcup-Zweiten dieses seltsamen, plötzlich verschwundenen Sportwinters 2020.

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