Wer oben im Skigebiet von Verbier aus der Gondel steigt, sich nach rechts wendet und den Bec des Rosses aus der Nähe sieht, ist beeindruckt. Ein steiles, felsiges, massives Stück Natur, Spitzname Little Swiss Everest. Auf die Idee, sich mit Skiern oder einem Snowboard da hinunterzustürzen, kommt man als Normalsterblicher beim besten Willen nicht.
Und doch ist der Bec seit Jahrzehnten die Kathedrale des Freeridens, für die Szene das, was Wimbledon für Tennisspieler ist - und in jedem Frühjahr Austragungsort des abschließenden Wettbewerbs der Freeride World Tour (FWT). Dabei bauen die Cracks in dem bis zu 60 Grad steilen Gelände auch noch Rückwärtssalti und andere absurd anmutende Tricks ein, über 800 Höhenmeter. "Wer hier stürzt, kann tot sein", sagt Nicolas Hale-Woods, der Veranstalter der Tour - und Makler des Geschäfts mit der Gefahr.
Tatsächlich handelt es sich hier nicht um das Klassentreffen von ein paar Lebensmüden, sondern um einen strikt reglementierten Wettkampf - und um den nächsten Sport, der es zu Olympia schaffen will. Zugleich haben die Freerider seit einer Weile das Interesse - und das Geld - des Ski- und Snowboardweltverbandes Fis mit seinem umstrittenen Präsidenten auf sich gezogen. Ganz schön viel Musik für eine Wintersportnische, sodass sich mittlerweile einige Beobachter auf den sportpolitischen Fluren fragen: Was genau geht da eigentlich vor?
Seit 1996 organisiert der Schweizer Hale-Woods Events in den Bergen, seit 15 Jahren die Freeride World Tour, eine aus fünf Stopps bestehende Serie mit Halt in Kanada, Frankreich, Andorra, Österreich und der Schweiz. Die besten Freerider auf Skiern und Boards pflügen, bepackt mit Wagemut und Lawinensuchausrüstung, über einen unpräparierten Hang, den sie zuvor nur per Fernglas von unten inspizieren durften. Da die Athleten nur mit guter Sicht starten können, sind sie extrem vom Wetter abhängig. Pro Tour-Stopp ist deshalb eine volle Woche angesetzt. Manchmal reicht selbst die nicht - wie zuletzt in Verbier, als das Tour-Finale wegen Lawinengefahr abgesagt wurde. Das kam in 15 Jahren erst zweimal vor, aber ein Finale ohne Finale ist eher schwer vermittelbar, wenn man künftig auf der großen Bühne mitspielen, wenn man TV-Sender anlocken will.
Auf Skiern und Boards der Athleten entdeckt man auch "Fis sucks"-Aufkleber
Da dürfte auch Dean Gosper gegrübelt haben, ein Mittsechziger aus Melbourne. Er ist Jurist und Ökonom, seit 13 Jahren Mitglied im Fis-Council, einer Art Weltregierung des Wintersports - und seit vergangenem Dezember Executive Chairman der Freeride World Tour. Kurz vor Saisonbeginn hatte Hale-Woods seine Organisation an die Fis verkauft, was nötig gewesen war, um die Tour am Leben zu erhalten. Zuvor war wieder ein Sponsor abgesprungen.
Mit der Fusion vermarktet und verwaltet die Fis nun rund 200 Events für 6000 lizensierte Freerider, die bei Junior-Wettbewerben, unterklassigen Events und der World Tour starten. Sie will Strukturen einziehen, die einer olympischen Sportart entsprechen; Athleten sollen etwa aus den einschlägigen Fördertöpfen schöpfen. Zugleich verleibt sich die Fis das junge, ungezähmte Image der Tour ein. Fis-Präsident Johan Eliasch ließ sich zuletzt immer wieder euphorisch zitieren: "Mit der Integration der FWT erweitert die Fis ihr Portfolio um eines der aufregendsten und dynamischsten Wintersport-Wettkampfformate."
Abgrundtief: Zwischen Start und Ziel - hier in Fieberbrunn - liegen bei den Freeridern Hunderte Höhenmeter.
(Foto: Dom Daher/Freeride World Tour)Hale-Woods, der Gründervater der Tour, sieht das ähnlich: "Die Integration in die Fis stellt unseren Sport in ein Schaufenster." Er hatte schon mit Eliaschs Vorgänger Gian Franco Kasper darüber verhandelt, die Freerider mit dem Fis-Betrieb zu verschmelzen. Nun kann er endlich daran basteln, die Tour auszubauen: Japan, die USA, sogar Russland könnten wieder dazukommen, Neuseeland und Georgien als neue Standorte aufscheinen. "Den Kontakt zu Georgien haben wir der Fis zu verdanken, die zuletzt dort die Snowboard-WM veranstaltet hat", sagt Hale-Woods. Die Rezensionen der Beteiligten fielen aber gemischt aus.
Also eine Win-win-Situation, wie beide Seiten versichern? Hale-Wood schätzt, dass mittlerweile "90 Prozent der Athleten die Fusion positiv sehen". Man entdeckt aber auch "Fis sucks"-Aufkleber auf Skiern und Boards der Fahrer. Szene-Größen wie Markus Eder und Manuela Mandl warnen vor etwaigen Reglementierungen und fürchten, dass der Kern des Freeridens verloren gehen könnte. Und wenn künftig die Outfits von Nationalverbänden vorgeschrieben wären, müssten die Fahrer womöglich auf Logos ihrer Sponsoren verzichten, die (noch) ihre Existenz sichern. Könnten Fördergelder und Verbandskader das ausgleichen? Snowboarder, Surfer, Kletterer und Skateboarder sind mit der Aufnahme in den olympischen Kanon jedenfalls nicht nur glücklich geworden.
Fakt ist, dass das IOC dringend vitale Sportarten braucht, die ein jüngeres Publikum ansprechen - also das, was Bogenschießen und Buckelpiste eher nicht (mehr) schaffen. Aber ob die Fis mit den Freeridern bei den Olympiamachern offene Türen einrennt? Mit diesem kreuzgefährlichen, schwer von Wetter und dem immer unzuverlässiger fallenden Schnee abhängigen Sport, der es immer wieder bei Sponsoren schwer hatte?
Da klingt es schon interessant, dass die Fis die Freeride-Tour dem Vernehmen nach für fünf Millionen Schweizer Franken übernahm - eine ziemlich teure Verjüngungskur. (Die Freeride-Tour macht auf Anfrage keine Angaben zum Kaufpreis, die Fis lässt eine Frage dazu unbeantwortet.) Enorm viel Geld ist das für die kleine Szene, die ob der Zuwendung dem Vernehmen nach ein klein wenig verwundert war, freundlich gesagt. Noch interessanter wird es, wenn man danebenlegt, dass die Fis nach SZ-Informationen zumindest zeitweise mit einer pikanten Idee jongliert haben soll: Freeride-Athleten künftig direkt bei der Fis als Mitglieder einzuschreiben. Klingt nach einer Petitesse, tatsächlich würde das eine zentrale Praxis untergraben: Bislang sind nur Nationalverbände wie der Deutsche Skiverband Mitglieder in der Fis - die ihre Athleten wiederum melden.
Soll der kleine Freeride-Sport als Experimentierlabor dienen?
Seit Eliasch Präsident der Fis ist, ist das mit etablierten Praktiken nur so eine Sache. Der Fis-Vorschlag für die Freerider würde jedenfalls - rein zufällig - den Boden bereiten für ein weiteres Szenario: Würden Athleten nicht mehr über Nationalverbände gemeldet, müssten sie auch nicht unter Länderflagge antreten, sondern könnten für Sponsorenteams starten, wie im Radsport und der Formel 1. Und vielleicht könnte der Fis-Präsident Eliasch dann ja mal beim Sportartikelfirma-Besitzer Eliasch nachfragen, ob dessen Unternehmen nicht ... aber halt, stopp, das eine hat natürlich rein gar nichts mit dem anderen zu tun!
Dass sich der Alpinsport irgendwann in eine solche Formel 1 auf Schnee verwandeln könnte, hält sich jedenfalls schon länger als Gerücht, seit Eliasch in der Fis regiert. Der Präsident hatte zuletzt zwar beteuert: Nein, das habe er nicht auf seiner Agenda - dann würde man ja die Nationalverbände aushebeln und alles, was diese für den Nachwuchs und weniger populäre Wintersportarten leisteten. Aber wie passt der angebliche Vorstoß bei den Freeridern dazu? Ein Versuch, ein Experimentierlabor im Kleinen zu errichten? Um irgendwann zu sagen: Seht her, was bei den Freeridern klappt, könnte man vielleicht doch auch im Alpinsport ... Die Fis lässt auch Fragen dazu unbeantwortet: zur Idee mit der direkten Athleten-Mitgliedschaft oder ob sie jenseits des Alpinsports über Sponsorenteams nachdenkt.
Freigeister: Nicht alle Freerider begrüßen die Eingemeindung ihrer Tour in den Weltverband Fis.
(Foto: Valentin Flauraud/dpa)Spricht man FWT-Chef Hale-Woods darauf an, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: "Darüber haben wir nie gesprochen." Nach SZ-Informationen soll es die Überlegungen jedenfalls gegeben haben - die Fis hat sie derzeit aber anscheinend stillgelegt.
So oder so dürfte es sich lohnen, die kleine Szene der Freerider im Blick zu behalten - beim Frühlingstreff der Fis Anfang Mai etwa, wenn die Delegierten in Dubrovnik zusammenkommen.
Und die Sportler? Man kann sie getrost noch als Familie bezeichnen, sitzen sie doch von Januar bis April in den Bergen zusammen und warten auf gute Sicht. Bislang gehen sie recht entspannt mit der Übernahme um. Ist ja noch weit weg, dieses Olympia. Nach der Wettkampfabsage am Bec des Rosses suchten sich ein paar Fahrer einen lawinensicheren Ort und malten Backflips und Three-Sixties in die Landschaft, einfach so, weil sie ihren Sport lieben. Für welche Nation oder welchen Verband jemand fährt, ist ihnen egal. Noch.