Es war schon spät und dunkel, als die Aufrufe zu den letzten Pressekonferenzen an diesem Sonntag auf den Bildschirmen im Media Pavillon erschienen. Der Russe Daniil Medwedew wurde angekündigt, der Kolumbianer Miguel Tobon, der Spanier Roberto Bautista Agut. Dann leuchtete zehnmal ein Name auf, der im globalen Tennisgeschäft noch nie aufgetaucht war.
Um 21.30 Uhr würde „Lulu Sun (NZL)“ im Media Theatre reden, danach sei sie bei den Sendern WBS, Stan Australia, BBC, Eurosport, Wowow, Red Lantern Digital Media LTD, Prime Germany, ESPN International und Bein Sports France. Wie Lulu Sun diesen Interview-Marathon überstehen würde, war die Frage, denn schon als sie anfangs zu den Pressevertretern sprach, gab sie sofort zu: Sie sei super zufrieden, aber müde. Auch emotional. Sie war zuvor schon auf dem Centre Court in Tränen ausgebrochen.

Kerbers Aus in Wimbledon:Es bleibt immer noch Paris
Zum achten Mal in dieser Saison misslingt Angelique Kerber das Auftaktmatch eines Turniers. Sie ringt weiter um die Form früherer Tage. Nach dem Aus in Wimbledon setzt sie nun auf Olympia – im Einzel und im Doppel mit Laura Siegemund.
Niemand freilich hat je behauptet, dass es leicht sein würde, eine Sensation zu sein. Und diese Erfahrung durchlebt jetzt die Linkshänderin Lulu Sun, die in ihrem kämpferischen Spielstil und beim Aufschlag an Angelique Kerber erinnert. Die 23-Jährige steht, als hätte sie sich heimlich dorthin gebeamt, im Viertelfinale des berühmtesten Tennisturniers der Welt – und sie selbst staunte am meisten darüber. „Ich kann es nicht in Worte fassen“, sagte sie holprig.
Sachlich betrachtet, ließen sich dann doch Gründe für ihren Erfolg finden, das Frauenfeld in Wimbledon ist in diesem Jahr früh durcheinander gewirbelt worden. Die Auslosung war offener, wie es dann heißt. Vor der ersten Runde hatte die Belarussin Aryna Sabalenka, eine der besten Akteurinnen ihres Sports, verletzt zurückgezogen, in der dritten Runde verlor Iga Swiatek aus Polen, die zuletzt unbesiegbar erschien. Wenn dominante Figuren wegbrechen, tun sich Lücken auf für unbekanntere Profis, so ist das eben.
Die zweite Überraschung: Emma Navarro schlägt die Favoritin Coco Gauff
Ein neues Gesicht im Grand-Slam-Viertelfinale ist auch Emma Navarro, wobei sich die Entwicklung der 23-jährigen New Yorkerin angekündigt hatte. Bei den Australian Open im Januar erreichte sie das Achtelfinale. Auf dem Weg ins Viertelfinale hat sie in Wimbledon bislang nur einen Satz abgegeben, gegen die Russin Diana Shnaider, im Achtelfinale fertigte sie mit ihrem schnörkellos-aggressiven Tennistrainertennis die US-Open-Siegerin Coco Gauff 6:3, 6:4 ab. Bislang stand Navarro meist wegen ihres Hintergrunds in den Schlagzeilen, Vater Ben, ein Geschäftsmann, hat es zum Milliardär gebracht, ähnlich wie der Vater von Navarros Landsfrau Jessica Pegula.
Suns Weg bewegt die Gemüter aber beim Turnier vorerst noch etwas mehr, nicht nur in den Medien. „Die einzige Sonne, die wir diese Woche hatte, ist Lulu“, textete etwa der griechische Profi Stefanos Tsitsipas auf der Plattform X voller Bewunderung, ein feines, doppeldeutiges Wortspiel. Regen prägte ja Wimbledon seit dem Beginn am 1. Juli.
Zu Suns Vorbildern gehört Steffi Graf, sie hat Videos von Grafs Rasenduellen mit Martina Navratilova studiert, wie sie erzählte. Und ihre Vita ist sogar noch multikultureller als der ihrer Achtelfinalgegnerin Emma Raducanu, die sie mit 6:2, 5:7, 6:2 besiegte und damit die Euphorie um Englands Tennis-Darling jäh stoppte. Sie wurde in dem neuseeländischen Örtchen Te Anau geboren, ging in Shanghai zur Schule, wuchs bei Genf in der Schweiz auf, studierte dann – mit BA-Abschluss – in den USA Internationale Beziehungen. Zunächst hieß sie Lulu Radovic, als sich ihr kroatischer Vater und ihre chinesische Mutter trennten, wechselte sie den Nachnamen. Ihr Stiefvater, der sie trainierte, ist Deutsch-Engländer, ihr jetziger Trainer Vladimir Platenik Slowake.
Noch zu Jahresbeginn spielte Lulu Sun für die Schweiz
Sun spricht Englisch (mit texanischem Akzent), Französisch, Chinesisch und lernt Koreanisch. Natürlich wurde sie auch gefragt, wie sie mit ihrer Internationalität umgehe. „Ich werde sicher alle Länder, in denen ich lebte, aufwuchs oder zu denen ich eine Verbindung habe, in mir tragen“, sagte sie. Sie ziehe einfach das Positive aus ihren vielen Wurzeln.

Dass sie für Neuseeland antritt, ist relativ frisch, zu Jahresbeginn nahm Sun ein Angebot ihres Geburtslands an, der Schritt fiel ihr schwer, von Swiss Tennis zuvor war sie auch gut unterstützt worden, doch dank des Wechsels kann sie an den Olympischen Spielen im August teilnehmen. Sie wolle dem Schweizer Verband Geld zurückzahlen, so zitierte sie CH Media, nachdem Sun in der ersten Runde erstmals richtig auffiel: mit ihrem Sieg gegen die chinesische Top-Ten-Spielerin Zheng Qinwen.
Das Studium, Verletzungen sowie die Corona-Pandemie hätten ihren Fortschritt gebremst, erklärte Sun, nun aber spüre sie, dass „Schritt für Schritt“ ihre Arbeit aufgehe und sie sich mehr und mehr das hohe Profiniveau zutraue. Im Januar stand sie in Melbourne erstmals im Hauptfeld eines Grand Slams. In Wimbledon half ihr auch einmal das Glück. In der zweiten Qualifikationsrunde wehrte sie einen Matchball der Tschechin Gabriela Knutson ab. Ihre Geschichte hätte keine Geschichte werden können, Sport ist schon manchmal erstaunlich.
Und noch immer ist ihr Weg nicht vorbei. Lulu Sun, noch Nummer 123 der Rangliste, trifft am Dienstag auf die erfahrene Kroatin Donna Vekic (Nr. 37.). „Ich werde alles geben“, sagte sie. Kurz danach zog sie weiter. Der Interviewmarathon hatte erst begonnen.