Am 7. Juli 1985 um 17:26 Uhr reckt in London ein rothaariger Junge aus Leimen die Arme in die Luft. Boris Becker, 17 Jahre und 228 Tage alt, hat tatsächlich das Tennisturnier in Wimbledon gewonnen. Als erster deutscher Spieler überhaupt, als erster ungesetzter Spieler - und bis heute als jüngster der Geschichte. Es ist ein Nachmittag, der das Leben von Boris Becker verändert, aber auch ein ganzes Land.
Zwei Wochen vor Wimbledon gewann Becker das ATP-Rasenturnier in Queens, doch als Favorit reist er nicht nach London. Sein Weg bis ins Finale ist beschwerlich. Er ringt Hank Pfister, Matt Anger, Joakim Nyström, Tim Mayotte, Henri Leconte und Anders Järryd nieder. Nur in der zweiten Runde gegen Anger gewinnt der 17-Jährige locker in drei Sätzen. In der dritten Runde steht er sogar kurz vor dem Aus: Gegen Nyström muss er in den fünften Satz, es ist ein dramatisches Spiel, am Ende heißt es 3:6, 7:6, 6:1, 4:6, 9:7.
Becker ist in jenem Sommer 1985 von niemandem aufzuhalten. Sein Aufschlag ist schnell und variabel, seine Vorhand hart, sein Return berüchtigt, sein Netzspiel souverän. Ein Spitzname ist schnell gefunden: "Bumm Bumm Boris", nennt ihn die deutsche und britische Presse.
Becker spielt sich in die Herzen der Zuschauer. Sein im Sprung geschlagener Volley sieht spektakulär aus und ist obendrein meist erfolgreich. Der Schlag geht als "Becker-Hecht" oder "Becker-Rolle" in die Tennisgeschichtsbücher ein. Wenn der Leimener wichtige Punkte gewinnt, ballt er die "Becker-Faust".
Dann beginnt an jenem Sonntag vor 35 Jahren das Finale gegen Kevin Curren, elf Millionen Deutsche fiebern vor dem Fernseher mit. Der fast zehn Jahre ältere gebürtige Südafrikaner gilt als großer Favorit auf den Titel, er hat zuvor Stefan Edberg, John McEnroe und Jimmy Connors locker in drei Sätzen besiegt. Becker gewinnt den ersten Satz 6:3, den zweiten holt Curren im Tie-Break. "Danach war ich mir sicher, dass ich ihn packen würde", erinnert sich Curren vor ein paar Jahren an das Spiel. "Aber er hat mich wirklich überrascht." Der Amerikaner, der erst einen Monat zuvor eingebürgert wurde, wird immer unzufriedener mit sich, Becker dagegen serviert zusehends stärker, wird immer sicherer.
Becker sichert sich den dritten Satz im Tie-Break. Beim Stand von 5:3 im vierten Durchgang wehrt Curren einen Matchball ab und verkürzt. Wird der 17-Jährige nun nervös? Becker serviert zu Beginn seines Aufschlagsspiels tatsächlich einen Doppelfehler. Er fängt sich jedoch wieder, dann steht es 40:15. Matchball. Erneut landet Beckers zweiter Aufschlag im Netz. Becker hadert mit sich, das Publikum raunt, seine Mutter hält sich die Hände vor die Augen. Nur noch 40:30. Doch dann serviert der Deutsche hart auf die Rückhandseite, Curren hat keine Chance, den Ball zu kontrollieren.
Becker wirft den Kopf zurück, er reckt beide Hände in die Höhe und stößt einen lauten Schrei aus. Er ist tatsächlich Wimbledonsieger. Die Zuschauer erheben sich und applaudieren minutenlang. Sein Vater schießt mit einer kleinen, schwarzen Kamera von der Tribüne aus ein Erinnerungsfoto für das Familienalbum.
Die Herzogin und der Herzog von Kent schreiten zur Siegerehrung auf den Centre Court, in einer blauen Trainingsjacke nimmt Becker den Pokal entgegen. Er stemmt ihn in die Höhe, er küsst ihn. Immer wieder. "Dieses Wunderkind hat die Welt begeistert", schreibt die italienische Zeitung Gazzetta dello Sport am Tag danach. Die Washington Post befindet: "Vielleicht war er zu jung, um zu wissen, dass er zu jung war, um Wimbledon zu gewinnen."
Beckers Triumph ist für den deutschen Sport so bedeutend wie der Sieg von Max Schmeling 1936 gegen Joe Louis oder der WM-Titel der Fußballnationalmannschaft 1954 in Bern. Fünf Tage nach dem Finale von London bereitet ihm seine Heimatstadt einen großen Empfang. Tausende Menschen stehen in Leimen an den Straßen, sie halten Plakate hoch, auf denen "Superboris" steht. Bürgermeister Herbert Ehrbar überreicht ihm vor dem Rathaus die Ehrenbürger-Urkunde.
Beckers Wimbledon-Sieg verändert ein ganzes Land. Tennis avanciert zum populärsten Zuschauersport nach Fußball, die Tennisvereine verzeichnen Mitgliederrekorde. 1986 und 1989 gewinnt Becker noch einmal in Wimbledon, den Centre Court nennt er fortan: "mein Wohnzimmer".