Wimbledon:Schockwellen von Court 1

Roger Federer versucht, seinem Aus die Schwere zu nehmen, sein ewiger Rivale Rafael Nadal greift energiegeladen wie lange nicht nach dem Titel.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

"If you can meet with triumph and disaster / And treat those two impostors just the same", steht über dem Eingang zum berühmtesten Tennisstadion. "Wenn du mit Sieg und Niederlage umgehen kannst / Und diese beiden Blender gleich behandelst": Diese Zeilen entstammen dem Gedicht "If-", 1895 verfasst vom britischen Schriftsteller Rudyard Kipling.

Roger Federer und Rafael Nadal trafen Sieg und Niederlage. Aber nicht ganz so, wie es Wimbledon erwartet hatte.

Wimbledon: Große Reichweite: Kevin Anderson nutzte seine Körperlänge, um selbst gut platzierte Bälle noch zu erreichen.

Große Reichweite: Kevin Anderson nutzte seine Körperlänge, um selbst gut platzierte Bälle noch zu erreichen.

(Foto: Oli Scarff/AFP)

"Es ist jetzt Realität, dass Federer nicht mehr hier ist", sagte Nadal, der 17-malige Grand-Slam-Sieger am Mittwochabend. Er sah erstaunlich frisch aus, dafür, dass er auf dem Centre Court 4:48 Stunden lang mit dem Argentinier Juan Martín del Potro eines der intensivsten Matches dieses Jahres geboten hatte, sie hechteten, droschen, litten. "Das ist Teil des Sports", nahm Nadal seinen ewigen Rivalen in Schutz: "Es tut mir für ihn leid. Aber es ist unmöglich, immer zu gewinnen, auch für ihn."

Wimbledon

Roger Federer gingen im Verlauf des Matches die Mittel aus.

(Foto: Andrew Boyers/Reuters)

Auch Federer, ja, er kann verlieren.

Am Mittwoch war es geschehen, der Weltranglistenerste aus der Schweiz unterlag im Viertelfinale 6:2, 7:6 (5), 5:7, 4:6 und 11:13 dem Südafrikaner Kevin Anderson, der viel variantenreicher spielt, als er wahrgenommen wird, der - obwohl Weltranglisten-Siebter und 2017 US-Open-Finalist - oft nur auf Größe (2,03 Meter) und Aufschlag reduziert wird. Wäre Nadal gescheitert, hätte die Tenniswelt wohl am ehesten bedauert, dass es nun nicht mehr dieses sehnsüchtig erhoffte Finale geben würde, zwischen Nadal und Federer, exakt zehn Jahre, nachdem sie sich an selbiger Stelle ein legendäres Duell geliefert hatten. Die Welt wäre aber nicht gleich derart bedrückt aufgebrochen auf der Suche nach Antworten. Zu klären war ja: Wie konnte es geschehen, dass Federer - der achtmalige Wimbledon-Champion, der nur seine Nase rausstrecken muss und schon frohlocken alle, weil er die Leitfigur ist, sportlich, charakterlich, stilistisch - erstmals seit 2013 nicht mehr das Halbfinale erreicht hat im All England Club?

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Keine andere Partie hat es im Profi-Tennis häufiger gegeben: Zum 52. Mal treffen der Spanier Rafael Nadal und der Serbe Novak Djokovic aufeinander. Noch führt Djokovic mit 26:25 Siegen, aber nach einer Serie von sieben Erfolgen zwischen April 2015 und Mai 2016 unterlag er Nadal zuletzt zweimal nacheinander. Bei Grand-Slam-Turnieren lautet die Bilanz 9:4 für Nadal, das bisher letzte Duell liegt aber drei Jahre zurück; Djokovic gewann es in Paris. In Wimbledon siegten beide je einmal: 2007 gab Djokovic verletzt auf, 2011 gewann er im Finale. MP

Inmitten der Schockwelle, die auf Court 1 ausgelöst wurde, wo Federer zum ersten Mal seit dem Viertelfinale 2015 gegen Gilles Simon statt auf seinem heiligen Centre Court spielen musste, gab es zum Glück eine Person, die die überbordende Bedeutungsschwere angenehm herunterdimmte: Federer selbst. Für seine Verhältnisse ungewöhnlich war, dass er sehr rasch nach der Niederlage zur Pressekonferenz erschien, das drückte durchaus aus, dass er diesen Part schnell hinter sich bringen wollte - und doch war er ruhig und analytisch wie immer und lieferte sachgerechte Erklärungen. Nach einem guten ersten Satz habe er einen "mittelmäßigen Tag" gehabt und sich "nie ganz bei 100 Prozent gefühlt". Beim 5:4 im dritten Satz vergab er einen Matchball, danach verlor er die Kontrolle, bedingt auch durch Anderson, der so mutig spielte, wie er sich immer in Gedanken vorsagte: "Das wird mein Tag." Federer gab zu: "Ich konnte ihn nicht mehr überraschen, das war kein schönes Gefühl." Das wiederum war ein bemerkenswertes Bekenntnis. Wenn der Rasenkönner und Erfinder des SABR getauften Returns (sneak attack by roger), bei dem er sich bei guten Aufschlägern fast bis an die Aufschlaglinie ranpirscht, über fehlende Mittel spricht, klingt das nach einer Zäsur.

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Für Federer hieß es am Ende: Sachen packen.

(Foto: Matthew Stockman/Getty Images)

"Mein Ziel ist, nächstes Jahr wiederzukommen", sagte Federer aber beruhigend, es gehe ihm gut, er sei nur enttäuscht, "ich hatte meine Chancen und habe sie verzockt, das ist mein Problem". Er kennt die Richtungen, in die das Pendel ausschlagen kann; einige Punkte entscheiden, meist zu seinen Gunsten, diesmal nicht. Federer, der Realist, hatte nie verheimlicht, dass es nach seiner Rückkehr nach der halbjährigen Verletzungspause zu Beginn 2016 oft besser lief als erwartet. Nun lief es schlechter, wobei Federer, der wieder die Sandplatzsaison ausgelassen hatte, schon bei den Turnieren in Stuttgart und Halle nicht restlos mit sich zufrieden gewesen war, trotz eines Turniersieges und einer Finalteilnahme. Das sind auch für die Besten jene möglichen Schwankungen im Sport, von denen Nadal sprach, der der Profiteur der neuen Situation werden könnte.

Mit einem Finalerfolg am Sonntag käme der Spanier mit 18 Grand-Slam-Trophäen bis auf zwei an Federer heran; bei den US Open startet er im Spätsommer als Titelverteidiger. Das sind noch statistische Spielereien, aber Nadal agierte in Wimbledon energiegeladen und aufgepumpt wie lange nicht. Man muss jetzt mit ihm rechnen. 2011 stand er dort zuletzt im Halbfinale, in dem er nun auf den wiedererstarkten Novak Djokovic trifft, auch ein ewiger Rivale, es wird das 52. Kräftemessen. "Er ist einer der komplexesten Spieler, die ich je in unserem Sport gesehen habe", lobte Nadal den Serben, doch das gilt erstaunlicherweise für ihn gerade ebenfalls auf Rasen. Es ist eine spielstrategische Sensation, wie er agiert, Nadal spielt teils so, als gingen die French Open in England weiter und die Halme der Sorte Perennial Ryegrass seien terre battue, rote Asche. Überdies hat er den Stopp als giftiges Element wiederbelebt. "In Roland Garros habe ich viele Punkte mit Stopps gewonnen", sagte er in Wimbledon, "hier auf Rasen ist es schwer, die Beine zu stoppen, wenn du rennst." Und der Ball springe kaum hoch. So sieht das der listige Nadal.

Die größere Hürde könnte für ihn demnach der elastische, wieder gallige Djokovic sein, der nicht davor zurückschreckt, sich im betuchten All England Club mit den Schiedsrichtern anzulegen. Im zweiten Halbfinale treffen Anderson und John Isner (2,08 Meter) aufeinander. Der Amerikaner, der in Wimbledon 2010 das längste Match der Geschichte gespielt hatte gegen den Franzosen Nicolas Mahut (70:68 im fünften Satz), erlebt "das beste Grand Slam meines Lebens", wie er sagte und überzeugte, bis auf seine ausgesprochene Einladung an Donald Trump, tatsächlich nicht nur aufgrund seiner üblichen Asse.

Sieg und Niederlage, triumph and disaster, in der Endphase des Tennis-Klassikers von Wimbledon, den es seit 1877 gibt, geht es mehr denn je um diese zwei Blender. Einen schönen Satz sprach Nadal, der gewinnen will, klar, das betonte er eigens. Aber relativierend meinte er auch: "Am Ende des Tages genießt du es einfach, auf einem der besten Plätze in unserem Sport zu spielen." Die Großen wissen die Dinge einzuordnen.

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