Süddeutsche Zeitung

Wimbledon:Kerber spielt, aber keiner guckt zu

  • Weil parallel in Russland die Fußball-WM stattfindet, bleiben selbst auf dem Centre Court in Wimbledon viele Plätze frei.
  • Am Montag trifft Kerber auf die Schweizerin Belinda Bencic - ihre Chancen im Turnier haben sich dank ihrer Konkurrentinnen deutlich verbessert.
  • Hier gibt es alle Wimbledon-Ergebnisse im Überblick.

Von Gerald Kleffmann, London

Der Centre Court in Wimbledon ist einer der heiligen Orte des Sports. Die Tennis-Fans stehen stundenlang an, nur um einmal im Leben dort ein Match beim berühmten Rasenturnier sehen zu dürfen. Profis träumen davon, einmal dort zu spielen, zumindest die Profis, die nicht Roger Federer heißen: Der spielt eh immer im größten Stadion. Aber selbst für Angelique Kerber, immerhin eine zweimalige Grand-Slam-Gewinnerin und frühere Nummer eins der Welt, ist es etwas Besonderes, in dieser Arena aufzutreten. Bei der diesjährigen Veranstaltung kam sie erst am Samstag, nach fast einer Woche, in den Genuss, den Centre Court zu betreten.

Als Kerber dort am Samstagnachmittag erschien, um sich mit der Japanerin Naomi Osaka zu messen, in einem Duell, in dem es immerhin um den Einzug ins Achtelfinale ging, waren viele Plätze auf den Tribünen leer. Erschreckend viele Plätze. Das halbe Stadion. Auch in der Royal Box, wo laut Ankündigung Sir Bobby Charlton, der Leichtathlet Mo Farah, die Golfer Sergio Garcia und Tommy Fleetwood sowie hochrangige Vertreter des Militärs sitzen sollten: Leere, weitgehend. Eisern hielt Philip Brook, der Chef des All England Clubs, in der ersten Reihe die Stellung.

Es war ein skurriles Bild. Wimbledon ist ja aus Prinzip gerade abgeschnitten von der Welt, in der es sehr viel um Fußball geht, was daran liegt, dass gerade die WM in Russland läuft. Nun aber gab es sogar innerhalb der Anlage eine Abkapselung. Es gab die, die sich Kerber gegen Osaka ansahen. Und es gab die, die irgendwo draußen auf der Anlage des Clubs waren und hofften, klammheimlich auf Handys, iPads oder sonstigen Geräten wenigstens mal für 90 Minuten ein Fußballspiel zu sehen. England gegen Schweden, der mögliche und später dann tatsächliche Einzug der Three Lions ins WM-Halbfinale, das bewegte die Menschen in diesem Land. Diesmal auch viele bei diesem Tennisturnier.

In dieser Gemengelage bestritt Kerber ihr Match, und so bekam leider nur ein kleiner Teil der Menschheit mit, wie gut sie an diesem Tag war. 6:2, 6:4 in nur 1:03 Stunden fegte sie über Osaka hinweg, die eine sehr gute Spielerin ist; im vergangenen Herbst gewann sie bei den US Open in der ersten Runde noch gegen die Deutsche. Kerber hatte aber wie befreit aufgespielt, völlig anders gewirkt als noch in der zweiten Runde, als sie sich gegen die 18 Jahre alte Qualifikantin Claire Liu aus den USA in drei Sätzen zum Weiterkommen quälte.

"Ich bin glücklich, wie ich das Match gegen sie gespielt habe", sagte Kerber. Dass der Centre Court nur halb voll war, störte sie kein bisschen. "Ich habe es immer noch genossen", versicherte sie: "Daran habe ich gar nicht gedacht." Sie wusste ja um die Situation, auch wenn sie vortrug, sie wolle "nicht links und nicht rechts" schauen. Das wiederum hatte sie nur in dem Sinne gemeint, dass sie sich im Turnier nur auf ihren Weg konzentrieren wolle. Nächste Gegnerin für sie ist nun die Schweizerin Belinda Bencic. Kerbers Chancen verbesserten sich indes deutlich, weil die neunte der ersten zehn gesetzten Spielerinnen ausschied: Die Rumänin Simona Halep, Weltranglisten-Erste, unterlag Hsieh Su-wei aus Taiwan 6:3, 4:6, 5:7. Kerber greift an diesem Montag wieder ein, ihr Match auf Court 1 ist für 13 Uhr Ortszeit terminiert. Julia Görges, die einzige andere Deutsche, die noch im Einzelwettbewerb ist und bislang einen überzeugenden spielerischen und vor allem kämpferischen Eindruck hinterließ, trifft auf Donna Vekic aus Kroatien (zweites Match, nach 11.30 Uhr).

"I would rather be watching the football" - ich würde lieber Fußball anschauen

Zuletzt kollidierten Fußball und Tennis in Wimbledon derart vor zwölf Jahren. 2006 kämpfte der damals 19 Jahre alte Brite Andy Murray in der dritten Runde gegen Andy Roddick, und die englische Fußball-Nationalmannschaft musste damals parallel bei der Weltmeisterschaft in Deutschland gegen Portugal antreten. In Gelsenkirchen verlor das Team - wie, lässt sich leicht erraten: im Elfmeterschießen. Diese Disziplin konnten sie ja nicht, bis sie bei dieser WM die Welt tatsächlich doch mal vom Gegenteil überzeugten. "Wir sind ein Tennis-Event", stellte Richard Lewis in der Zeitung Daily Telegraph vor wenigen Tagen noch einmal klar. Das mächtige Wort des Geschäftsführers im All England Club ließ keinen Zweifel an der rigiden Umsetzung des Plans, kein einziges Mal Fußball auf einer der Videoleinwände zu zeigen. Und so kam es dann auch.

Somit unterwanderten, wenn man so will, diejenigen, die irgendwo in Grüppchen standen und auf winzige Handys schauten, die Autorität des streng konservativen Clubs. Doch niemand wurde offensichtlich abgeführt oder bestraft. Während des Sieges von Rafael Nadal aus Spanien gegen den jungen Australier Alex De Minaur hob ein älterer Herr auf dem Center Court ein Schild hoch, auf dem stand: "I would rather be watching the football" - ich würde lieber Fußball anschauen. Das war schon fast subversiver Widerstand gegen die Tennisgewalten. Die vor allem in den britischen Medien geführte Debatte, dass die Terminierung des Männer-Endspiels in Wimbledon mit der Terminierung des Fußball-Finales kollidiert, dürfte im Übrigen an Intensität zunehmen. In Wimbledon geht es am 15. Juli um 14 Uhr los, in Moskau nur zwei Stunden später.

Es gab nichtsdestotrotz aber auch eine beeindruckende Geste pro Tennis, die kein Geringerer als Sir Bobby Charlton vollführte. Der inzwischen 80 Jahre alte Fußball-Weltmeister von 1966 verzichtete nämlich darauf, die letzten 20 Minuten des erfolgreichsten Spiels einer englischen Fußball-Auswahl seit dem WM-Halbfinale 1990 in Italien zu verfolgen und tauchte leibhaftig wieder in der Royal Box auf. Charlton zog es vor, sich das einseitige Duell mit Kerber und Osaka zu Gemüte zu führen. Doch nicht jeder erkannte ihn. "Ah, okay", sagte Kerber verdutzt, als ihr später verraten wurde, dass hoher Fußballbesuch ihrem Match beigewohnt hatte. Sie lächelte dann aber schnell.

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SZ vom 09.07.2018/vit
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