Wimbledon-Halbfinalistin Angelique Kerber:Alles begann in New York

Die Geschichte von Deutschlands derzeit bester Tennisspielerin Angelique Kerber ist die eines Aufstiegs, wie es ihn in diesem Sport selten gibt. Nach der Erstrunden-Pleite von Wimbledon im vergangenen Jahr zweifelte sie noch an ihrem Talent - nun spielt sie in London um den Einzug ins Grand-Slam-Finale.

Michael Neudecker, London

Der Centre Court liegt tatsächlich zentral auf dem Gelände von Wimbledon, in einem großen Tennisstadion, 15.000 Menschen finden Platz hier. Der Centre Court von Wimbledon ist weltberühmt, viele große Momente hat man hier schon gesehen, große Matches. Das Stadion wurde 1922 errichtet und immer wieder ausgebaut, es hat lange Gänge, viele Treppen und Türen. Der Centre Court von Wimbledon zählt zu den wichtigsten Stadien des Sports, aber er ist ein wenig unübersichtlich. Angelique Kerber sagt, sie sei froh, dass ihr am Dienstag jemand den Weg gezeigt habe.

The Championships - Wimbledon 2012: Day Eight

Tennisprofi Angelique Kerber: Spielt zum ersten Mal im Halbfinale beim Turnier in Wimbledon.

(Foto: Getty Images)

Die Spieler haben immer jemanden, der ihnen den Weg zeigt, einen Ordner in dunkler Uniform, und wer nicht auf dem Centre Court auftritt, muss hinter dem Ordner über die Anlage gehen, durch die Menschenmassen, das ist immer ein Schauspiel: "Attention, Ladies and Gentlemen!", ruft der Ordner, und dann teilt sich die Masse. Wer auf dem Centre Court spielt, hat zwar auch einen uniformierten Wegweiser, aber einen, der nicht schreit, denn es gibt einen direkten Weg von den Kabinen zum Platz: über die Gänge, Treppen und Türen.

Ich war noch nie am Centre Court", sagt Kerber, "ich wusste überhaupt nicht, wo ich hin muss." Aber dann, als sie den Rasen betrat, die Atmosphäre spürte, "da hab' ich mich gleich wohlgefühlt", sagt Kerber. Sie spielte gegen Sabine Lisicki im Viertelfinale, sie gewann 6:3, 6:7 (7), 7:5, sie darf also am Donnerstag noch mal auf den Centre Court, zum Halbfinale gegen die Polin Agnieszka Radwanska. Die Geschichte von Angelique Kerber ist die bemerkenswerte Geschichte eines Aufstiegs, wie er im Tennis selten vorkam.

Angelique Kerber aus Kiel, 24, war mal eine Mitläuferin, eine, die um die Weltranglistenplatzierung 100 spielte, sie verlor oft in der ersten Runde, auch vor einem Jahr in Wimbledon verlor sie: gegen Laura Robson, eine 17-jährige Engländerin.

Kerber überlegte damals, ob es die richtige Entscheidung war, Tennisprofi zu werden, sie spielte noch ein Sandplatzturnier in Schweden, da schied sie in der zweiten Runde aus. Dann nahm sie eine Pause von der Tennistour. Und entschied, sich noch eine letzte Chance zu geben. Drei Wochen lang trainierte sie in Offenbach, in der Akademie der Tennisprofis Rainer Schüttler und Alexander Waske. Danach fuhr sie in die USA, und dann begann ihre Karriere.

In Dallas kam sie bei einem Hartplatzturnier ins Halbfinale, sie fuhr weiter nach New York, zu den US Open. Sie war die Nummer 97 der Welt, niemand rechnete mit ihr, auch in Deutschland war die Hoffnung größer als der Glaube. Doch Angelique Kerber spielte, als sei sie ein neuer Mensch: Sie kam bis ins Halbfinale, katapultierte sich auf Rang 33 der Weltrangliste.

In New York hat alles angefangen", sagt Kerber, sie klingt stolz. Seitdem, sagt sie, war sie nicht mehr allzu oft daheim: "Ich komm' halt jetzt meistens ins Halbfinale oder Finale." Sie lächelt nicht. Es ist ja wirklich so.

"Die Rangliste ist mir egal"

Das Jahr 2011 beendete Kerber auf Rang 32, 2012 erreichte sie gleich bei den ersten beiden Turnieren das Halbfinale, bei den Australian Open unterlag sie in der dritten Runde Maria Scharapowa, damals die Weltranglisten-Vierte. Dann gewann sie in Paris, in Kopenhagen, kam bei den French Open bis ins Viertelfinale, und nun, als Wimbledon begann, war Kerber Nummer acht der Welt.

Die Ranglistenpunkte sind wichtig im Tennis, sie definieren, wer bei welchen Turnieren spielen darf, gerade für die Spieler auf den hinteren Positionen ist jeder Punkt wichtig für die weitere Karriereplanung, bei Kerber war das auch mal so. Jetzt sagt sie: "Die Rangliste ist mir egal."

Sie weiß nicht, dass sie, wenn Wimbledon vorbei ist, auf Rang sieben klettern wird; sollte sie Wimbledon gewinnen, käme sie gar auf Position vier. Natürlich wäre das überraschend, aber überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass Angelique Kerber Wimbledon gewinnen könnte, das ist schon weit mehr, als vor ein paar Monaten alle erwartet haben, auch Angelique Kerber selbst.

Ihr Sieg im Viertelfinale gegen Sabine Lisicki war ihr 45. Sieg in dieser Saison, so oft hat keine andere Tennisspielerin 2012 gewonnen. Und, auch das, Angelique Kerber festigte mit diesem Sieg ihren Status als beste Deutsche - in einem Match, das keines war wie viele andere. Es war, wie manche englische Zeitungen am Mittwoch schrieben, "a thriller".

Erst war Kerber auf direktem Weg ins Halbfinale, dann Lisicki, und am Ende entschieden zwei Millimeter. Lisicki führte im dritten Satz 5:4 und 15:0, da sah die Linienrichterin einen Schlag von Kerber im Aus, Kerber auch, aber sie verlangte trotzdem eine Überprüfung per Videodarstellung, die im Tennis "challenge" heißt. Das Publikum liebt das, auf der Leinwand wird der Ball gezeigt, wie er auf die Linie zufliegt, und jetzt also flog der Ball, die Menschen machten "Oooooh" und "Aaaaah", und dann war zu sehen: Der Ball berührte die Linie. Mit zwei Millimetern seines Gesamtumfangs. Kerber kam zurück, sie gewann 7:5.

Angelique Kerber spielt ein kraftvolles Tennis, sie hat einen guten Aufschlag, und sie bringt nahezu jeden Ball zurück, egal, wie weit sie laufen muss. Agnieszka Radwanska sagt, es sei "schwer, gegen Kerber zu spielen". Am Mittwoch trainierten Radwanska und Kerber nacheinander, die Polin blickte ernst, als sie den Trainingspark in Wimbledon betrat, sie wirkte sehr konzentriert.

Kerber lachte, sie wirkte entspannt, ganz so, wie jemand wirkt, dem die Rangliste egal sein kann.

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