Süddeutsche Zeitung

Deutsche in Wimbledon:Görges denkt, Kerber kämpft

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Als fast alle wichtigen Fragen zu diesem speziellen Erfolg gestellt waren, den Julia Görges als "unreal" bezeichnet hatte, meldete sich der Reporter der Bild. Was sie nach dem Match aus dem Mund genommen habe, wollte er wissen. "Ich spiel' mit so einer Zahnklammer", antwortete Görges. Seit vier, fünf Jahren trage sie diese, "ich beiße so auf meine Zähne, und das geht auf meinen Kiefer." Sie schmunzelte: "Jetzt kommt deine Headline, ich weiß!" Da rief jemand von hinten: "Frau mit Biss!" Alle lachten, sogar der aufrechte Herr des All England Clubs, der dieses Interview leitete und einen verkabelten Knopf im Ohr trug. - "Haha, das kann ich morgen in der Bild lesen", rief Görges. Da hatte sie recht.

"Jules bissiges Geheimnis", lautete die Schlagzeile. Görges dürfte sie tags darauf amüsiert registriert haben. Und mit Stolz. Beinhaltete das Wortspiel doch eine wichtigere Nachricht: Der andere Biss bescherte ihr das beste Ergebnis der Karriere.

Nun ist es also tatsächlich so, dass nicht nur Angelique Kerber, 30, in der Runde der letzten Vier steht in Wimbledon, was für sich betrachtet schon eine große Geschichte ist - mal wieder. Sondern auch Görges, 29. Kerber trifft nach dem 6:3, 7:5 im Viertelfinale gegen die Russin Daria Kassatkina an diesem Donnerstag auf die Lettin Jelena Ostapenko. Görges nach dem 3:6, 7:5, 6:1 gegen die Niederländerin Kiki Bertens auf Serena Williams. Jetzt ist die schwarz-rot-goldene Geschichte so groß geworden, dass im Medienzentrum an der Church Road internationale Kollegen auf die deutschen Berichterstatter zukommen und sagen: "Ah, die Germans!"

Als hätten die auf dem Platz gestanden, aber Kerber und Görges waren dann doch alleine dafür verantwortlich, dass sie nun die deutsche Tennis-Historie mindestens um diese Noten bereichern: Erstmals seit 1993 sind zwei deutsche Spielerinnen im Halbfinale eines Grand Slams; das sind die vier bedeutendsten Turniere in Melbourne, Paris, Wimbledon, New York. Damals besiegte Steffi Graf bei den French Open Anke Huber und gewann das Finale gegen Mary Joe Fernandez. 1990 standen Graf und Claudia Porwik in der vorletzten Runde der Australian Open, Porwik scheiterte an Fernandez, die wiederum von Graf besiegt wurde. Das einzige deutsche Finale bestritten 1931 Cilly Aussem und Hilde Krahwinkel. Es siegte, mit Rock und Stirnband, Aussem, die ein facettenreiches und am Ende tragisches Leben gelebt hatte.

"Es ist großartig fürs deutsche Tennis", sagt Görges

In diesem Kontext war es absolut berechtigt, dass Görges einen weiten Bogen schlug: "Es ist großartig fürs deutsche Tennis." Und sie gestand: "Es klingt verrückt, dass wir die Chance auf ein deutsche Finale in Wimbledon haben." Das letzte Mal gab es diese Konstellation bei den deutschen Männern 1991, als Michael Stich im Endspiel Boris Becker überrumpelte.

Es ist kein Zufall, dass es Kerber und Görges sind, die nun für diese Perspektive sorgen. Sie sind, unabhängig vom Talent, jene deutschen Spielerinnen, die ihren Beruf am professionellsten definieren. Bisweilen sind sie so vorbildlich in ihrer Herangehensweise, dass es nicht immer leicht ist, abseitige Aspekte in ihrem Erscheinen zu finden. Es ist jedenfalls nicht bekannt, ob Kerber schräge Hobbys hat und im Keller Lambada tanzt oder französische Jahrgangsweine lagert und ob Görges sich fürs Weltall interessiert wie Alexander Zverev.

Bekannt ist dafür: Beide haben loyale Teams und sind loyal. Beide investieren in gute Betreuer. Kerber hatte eigentlich nur zwei Trainer, eine Ewigkeit den zupackenden Torben Beltz. Seit Ende 2017, als nach dem Scoopjahr 2016 mit zwei Grand-Slam-Titeln eine schlechtere Saison folgte, betreut sie der erfahrene Belgier Wim Fissette. Görges wagte 2015 die Zäsur. In Wimbledon erklärte sie diese in bestem Englisch noch einmal. Sie sei mit ihrem alten Team erfolgreich gewesen, nur: "Ich dachte, da ist mehr Potenzial in meinem Spiel", sie wollte "die beste Spielerin werden, die ich mit meinen Fähigkeiten werden kann". Sie zog von Bad Oldesloe nach Regensburg, stellte den Ex-Profi Michael Geserer als Trainer an sowie Florian Zitzelsberger als Fitnesscoach und Physio; mit Zitzelsberger ist sie nun liiert. Aber auch diese Beziehung trenne sie professionell, betont sie. Überdies: Wenn Kerber und Görges trainieren, trainieren sie. Sie flachsen nicht. Und sie posten nicht ständig Tweets im Internet in Posen und Kleidchen, wie es andere selbst nach Pleiten zelebrieren. Kerber und Görges sind old-fashioned Profis, so gesehen. Pflichtbewusst und ehrgeizig.

Natürlich unterscheiden sie sich auch, sehr sogar, nicht nur in der sportlichen Bilanz, die man gut gegeneinander schneiden kann. Sie sind Weggefährtinnen der selben Ära, beide Jahrgang 1988, zählten zur als goldenen Generation bezeichneten Gruppe mit Andrea Petkovic und Sabine Lisicki und setzten sich doch ab. Kerber dabei deutlich früher, was Görges hervorhob: "Angie hat in den letzten Jahren einen so viel besseren Job als ich gemacht, sie war in fast allen Halbfinals." Im Wimbledon erlebt sie nun selbst ihr erstes bei einem Grand Slam. Bis soeben hatte Görges ja trotz ihres kürzlich erreichten Top-Ten-Ranges (aktuell 13.) noch nie ein Grand-Slam-Viertelfinale erreicht.

Für Kerber ist es das siebte Halbfinale, ihre Erfahrung spiegelte sich in der Art wieder, wie sie in Wimbledon den Ansturm junger Kräfte abwehrte. Die Japanerin Naomi Osaka, die Schweizerin Belinda Bencic und Kassatkina können sie besiegen, aber Kerber wehrte die Attacken mit Freude ab. Die hat sie ja wiedergefunden, auch wenn sie in Bedrängnis weiter zu negativer Körpersprache neigt. Wenn Kerber ihr berühmtes "Komm jetzt!" ruft, dann ist das auch der Appell an sich selber, sich nicht runterziehen zu lassen. Kerber durchleidet Matches, das sagt sie immer, "im Hier und Jetzt". Ihre Methode ist es, nicht zu viel zu denken. Punkt für Punkt wirft sie sich ins Duell. Das macht sie so widerstandsfest.

Beide haben sich ihr Halbfinale erarbeitet

Görges denkt dagegen viel. Sie will das so, um sich selbst bei ihrem offensiven Stil zu helfen. Sie nutzt weniger Trotz und Borstigkeit wie Kerber, als ihre Fähigkeit zur Analyse, anhand derer sie sich korrigiert. In Wimbledon veranschaulichte sie, wie sie sich in bestimmten Match-Phasen empfand - als wäre sie aus ihrer Körperhülle geschlüpft und habe von außen diese Görges betrachtet, wie eine Wissenschaftlerin.

Beide, und da ist man wieder beim Thema Professionalität, haben ihre mental unterschiedlichen Ansätze bewusst geschult. Sie passen zu ihren Naturellen und spielerischen Fähigkeiten, die sie stark machen. Görges berät zudem der frühere Rasenspezialist David Prinosil. Auch bezüglich ihrer Abneigung gegen Gras ging sie methodisch vor, um doch mal Lust auf diesen unberechenbaren Belag zu bekommen.

Kerber mag es, aus der Deckung zu agieren, sie wehrte sich vor einer Favoritenrolle gegenüber Ostapenko. Sie hat noch nie gegen die 21-Jährige gespielt, die nur eine Taktik kennt: voll drauf! Görges hat in diesem Turnier bislang nur Gegnerinnen gehabt, die hinter ihr im Ranking standen, aber gegen Monica Puig, Vera Lapko, Barbora Strycova, Donna Vekic und Bertens verlieren viele, Görges überzeugte. Gegen den 23-maligen Grand-Slam-Champion Williams geht sie mit Respekt ins Match, "es ist eine Ehre, mit ihr den Platz zu teilen". Aber sie sagt auch: "Jedes Match fängt bei Null an." Einen Lauf, erklärte Görges entschieden, habe sie nicht. "Ich habe mir das erarbeitet." Wie Kerber.

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SZ vom 12.07.2018/ebc
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