Süddeutsche Zeitung

Deutschland in der WM-Qualifikation:Elementare Gurkentore

Der immer wieder rätselhafte Torjäger Timo Werner ist eines der zentralen Projekte des neuen Bundestrainers Flick. Gegen Rumänien wird er in der Startelf erwartet - er soll sich mit Erfolgserlebnissen selbst kurieren.

Von Philipp Selldorf

Während hierzulande Fußballer ihre Proteste über den Videobeweis im Kölner Keller abladen können, bleiben die Betroffenen in England mit ihrem oft genug gerechten Zorn allein. Auf der Insel haben sie es mit einer anonymen Instanz zu tun. Dort existiert weder ein sprichwörtliches "Basement" in London noch ein entsprechender "Cellar" in Manchester, der Amtssitz des nationalen Videogerichts befindet sich stattdessen irgendwo in einem Bürokomplex namens Stockley Park in West-London.

Noch hat Timo Werner die Anschrift nicht ermittelt, aber es könnte sein, dass er sich demnächst richtig Mühe damit gibt, denn die Instanz hat ihm, so sagt er, "schon sehr viel Leid bereitet - ich glaube, ich müsste denen mal einen Besuch abstatten".

Am Wochenende hat der Video-Assistent im Stockley Park zum 16. Mal ein Tor von Timo Werner aberkannt - zum 16. Mal, seitdem der Angreifer im Sommer 2020 von RB Leipzig zum FC Chelsea wechselte. Eine vergleichende Statistik liegt zu dem Thema nicht vor, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass der 25 Jahre alte Nationalspieler auf diesem Feld Rekordhalter der Premier League ist. Werner möchte sich jedoch nichts anmaßen, er spricht am Mittwoch im Team-Quartier der deutschen Nationalmannschaft lieber allgemein über das Unheil, das vom Tele-Schiedsrichter für sein Gewerbe ausgeht: "Für uns Angreifer ist es immer ein Schrecken, wenn der VAR angezeigt wird."

Timo Werner wurden bereits 16 Treffer vom Videoreferee aberkannt - vermutlich ein Premier-League-Rekord

In Wahrheit ist die Sache für Timo Werner nicht lustig. Der Nutzen seiner Leistung und sein Kurswert als Importpersonal aus Germany werden vor allem in Toren gemessen, von den Raumgewinnen, die er mit seinen Laufwegen schafft, ist im Boulevardblatt Sun und auf den Rängen der Stamford Bridge nicht so oft die Rede. Sein erstes Jahr in Chelsea war daher kein leichtes - er spielte oft, in 52 Partien, traf aber verhältnismäßig selten, zwölf Mal. Außer dem Renommee hat daran auch das Verhältnis zum Publikum gelitten.

Nachdem der FC Chelsea im Sommer den Belgier Romelu Lukaku in Besitz genommen hat, ist Werners zweites Jahr nun keineswegs einfacher geworden. "Lukaku ist ein Super-Stürmer, er ist ein Weltklassestürmer", erkennt Werner an. Der Deutsche muss jetzt öfter zuschauen. "Es ist nicht angenehm, so viel auf der Bank zu sitzen", sagt er, die Situation sei "schwierig: Man muss sich da reinhängen".

Auf den Termin am Freitagabend in Hamburg-Stellingen darf sich Werner demnach freuen. Dass er im WM-Qualifikationsspiel gegen Rumänien der Startelf angehört, darf als wahrscheinlich gelten. Der immer wieder mal rätselhafte Torjäger Timo Werner ist eines der vielen Projekte, denen sich Hansi Flick verschrieben hat.

Bei der dreigeteilten Einstandsrunde des Bundestrainers im September fiel Werner durch das Auslassen einer bemerkenswert hohen Anzahl erstklassiger Torchancen auf, am Ende ging er aber nicht nur deswegen als Sieger vom Platz, weil die Nationalelf mit ihm dreimal gewonnen hatte. Beim Tournee-Schlusspunkt in Island mühte sich Werner bis zur 88. Minute, ehe er auf undefinierbare Weise seine Trefferpflicht erfüllte. "Und dann kullert er doch noch irgendwie rein", bemerkte wohlwollend der TV-Kommentator.

Der Bundestrainer erklärte jetzt nicht weniger teilnahmsvoll, dieses 4:0, nach landläufiger Auffassung ein Exemplar der Marke Gurkentor, sei "sehr wichtig", sogar "elementar" gewesen. "Wir wollten ihn unbedingt auf dem Platz lassen, damit er noch dieses Tor machen kann, und ich bin froh, dass es so gekommen ist", sagte Hansi Flick dem Kicker. Im Timo-Werner-Unterstützerkreis nimmt der neue Nationalcoach wohl eine führende Rolle ein.

Was man Werner selten nachsagen kann: dass er den Mut verliert, wenn er wiederholt am Ziel vorbei oder dem Torwart geradewegs in die Arme geschossen hat. Er ist ein Stürmer, der immer bereit ist, es noch mal und noch mal zu probieren, darin liegt sowohl die mögliche Lösung seiner fußballerischen Probleme wie auch eine mögliche Ursache derselben. Denn immer wieder gerät dieses Weitermachen unter den Einfluss von Übereifer und der Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Methodik.

Schon als er vor viereinhalb Jahren sein Debüt in der Nationalelf beging, war dies ein auffallender Punkt. "Er hat unheimlich lange Wege gemacht", erklärte damals, befragt nach seinen Eindrücken, Joachim Löw. Im Kontext klang das nach einer höflichen Umschreibung für: Timo Werner war wohl ein wenig übermotiviert.

Der Stürmer hofft jetzt erst mal auf dickere kalibrierte Linien

Vielleicht würde er jetzt ein bisschen anders gesehen, wenn nicht ständig die Fernseh-Justiz intervenieren würde, einige der aberkannten Tore hätte man durchaus auch als regelkonform ansehen können, findet er. Ein typischer Fall, nicht nur aus seiner Sicht: Das Tor gegen den FC Southampton, das der VAR am Wochenende stornierte - wegen eines Fouls, das in der Vor- und Frühgeschichte des Angriffs vorgefallen war. "Wir haben das Gefühl, dass der VAR jedes Mal bereit ist, ihm das Tor wegzunehmen", schimpfte Thomas Tuchel später, der Trainer hatte sich zuvor so heftig beschwert, dass er die gelbe Karte erhielt.

Eine Welt ohne VAR wäre für Werner vielleicht eine bessere Welt, womöglich ist er als Fortschrittsverlierer zu sehen. "Ich mache viele tiefe Läufe, da komme ich zwangsläufig an Grenzen", sagt der Angreifer. Aber in seinem Optimismus lässt er sich nicht bremsen. Die Premier League hat zwar keinen prominenten Keller, aber sie hat bereits auf die vielen kniffligen Situationen reagiert, wo nur ein Trikotkragen oder eine Schuhspitze des Angreifers ins Abseits ragten. Diesem Problem der gleichen Höhe begegnet sie nun dem Einsatz von dickeren Linien bei der Kalibrierung. "Das ist schon mal ein richtiger Schritt", findet Timo Werner.

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