Süddeutsche Zeitung

Bundesliga:Werder kann noch Wunder

Bremen strotzt im Spiel der letzten Chance vor Offensive und Willenskraft und vermeidet mit einem 6:1 gegen Köln den direkten Abstieg. Überwältigte Fans versammeln sich vor dem Stadion.

Von Ralf Wiegand, Bremen

Einfach so wollte der SV Werder Bremen die Bundesliga dann doch nicht verlassen. Nicht, ohne mindestens einmal noch an eine Zeit zu erinnern, in der dieser Verein und seine wechselnden Mannschaften für Tore, nein, für Tor-Orgien standen, für bedingungslose Offensive, für Spielfreude, für Willenskraft, für alles halt, was Fußball so attraktiv macht. Warum das in diesem vorerst letzten Überlebensspiel gelang, das die Bundesliga den Bremern noch schenkte, kann womöglich der 1. FC Köln beantworten - Trainer Markus Gisdol aber sagte, er werde "den Teufel tun und jetzt auf meine Mannschaft einhacken". Den Bremern darf es egal sein: Mit 6:1 schossen sie sich im Fernduell mit Fortuna Düsseldorf noch auf Platz 16 und warten nun darauf, welcher Zweitliga-Dritte ihr nächster Gegner sein wird: Am 2. Und 6. Juli spielt Werder Bremen in der Relegation entweder gegen den 1. FC Heidenheim um den Klassenerhalt - oder aber gegen den Hamburger SV.

"Wir waren so oft tot in dieser Saison, so oft abgeschrieben, jetzt haben wir es wieder in der eigenen Hand", sagte Werders Trainer Florian Kohfeldt, der Union Berlin für den Sportsgeist dankte und sein Mitgefühl an Fortuna Düsseldorf schickte: "Wir waren selbst sehr nah dran, das Gleiche fühlen zu müssen." Seine Mannschaft habe unter immensen Druck, der noch einmal höher gewesen sei als in den Spielen zuvor, "eine tolle Leistung gezeigt." Die Höhe des Ergebnisses zeige, sagte Davy Klaassen, "wie sehr wir es gewollt haben".

Draußen vor dem Stadion hatte es vor dem Spiel freundlichen Applaus von wenigen Schaulustigen gegeben. Später, als das Spiel ungefähr eine halbe Stunde alt war, wehten Fan-Gesänge über die leeren Tribünen hinein ins Weserstadion, wo sich wahrhaft Wunderliches zutrug. 25 Minuten lag die Bedeutung dieses Spiels wie eine dunkle Wolke über dem Rasen, passenderweise donnerte es über Bremen, aber dann ging es los, drei Tore innerhalb von sieben Minuten: Yuya Osako (22.), Milot Rashica (27.) und Niclas Füllkrug (29.) nahmen ihrer Mannschaft alle Last von den Schultern, dieses Spiel - das war Teil I der Prüfungsaufgabe, zu gewinnen.

Teil II der Aufgabe bestand darin, das Spiel möglichst mit vier Toren Differenz zu gewinnen, was Fortuna Düsseldorf zwingen würde, ihre Partie in Berlin ebenfalls gewinnen zu müssen. Dafür brauchte Werder nochmal drei Minuten in der zweiten Halbzeit, erst Davy Klaassen und dann noch einmal der extrem starke Yuya Osako schossen die Tore zum 5:0 (55./58.).

Milot Rashica verwandelt sich zurück in den Spieler, den sie in Bremen "Rocket" rufen

Teil III der schwersten Prüfung, die der SV Werder seit seinem ersten Abstieg aus der Bundesliga im Jahr 1980 zu bestehen hat, bestand darin, sich auch mental in eine Verfassung zu bringen, die Unwägbarkeiten einer Relegation selbstbewusst überstehen zu können. Dafür waren die Kölner da, die den Bremern zum Beispiel den Gefallen taten, dem zuletzt vollkommen außer Form geratenen Milot Rashica durch keine Gegenwehr ein ganz persönliches Aufbauprogramm zu ermöglichen.

Rashica, der den Verein verlassen wird, vielleicht Richtung Leipzig, vielleicht nach Berlin, war zuletzt ein Schatten seiner selbst. "Rocket" rufen ihn die Mitspieler, Rakete, aber davon war monatelang nichts mehr zu sehen. In diesem einen Spiel aber verwandelte er sich zurück in den Milot Rashica, freundlich begleitet anfangs vom Kölner Toni Leistner, der das dann schon nach einer halben Stunde wieder lassen durfte, in den wertvollsten Spieler, den Werder im Sommer auf dem Transfermarkt anzubieten hat. Der Kosovare allein hätte das Ergebnis am Ende auch noch höher ausformulieren können, traf sogar einmal beide Pfosten mit einem Schuss.

"Die Leistungsträger waren heute wieder welche", sagte Marco Bode, formal Aufsichtsratsvorsitzender, faktisch der Bestimmer in der Bremer Führung. Osako, auf den Trainer Florian Kohfeldt die ganze Saison als Nachfolger des abgewanderten Max Kruse glauben wollte: plötzlich bester Mann auf dem Platz. Marco Friedl, der hoffnungsvolle Linksverteidiger mit Hang zum Totalausfall: fehlerlos, die Abwehr stabil, das Mittelfeld ballsicher. "Osako, Füllkrug und Rashica konnten zum ersten Mal in dieser Saison zusammen spielen", sagte Kohfeldt und begründete damit noch einmal indirekt, warum Werder seiner Meinung nach überhaupt in die Relegation musste - weil er wegen Verletzungen nie spielen lassen konnte, was er spielen lassen wollte.

Auch gegen defensiv im Ausflugsmodus agierende Kölner musste Werder aber erstmal sich selbst in den Griff bekommen, die eigenen Nerven, die eigene Angst, wie im Jahr 1980 in einem Spiel gegen Köln aus der Liga zu fliegen. Damals verlor Werder 0:5. 40 Jahre später gewannen sie 6:1, Dominick Drexler hatte für die Kölner getroffen (62.), Josh Sargent noch einmal für Werder (68. Minute).

"Das Messer zwischen die Zähne und raus", so old fashioned martialisch hatte der sonst so akribische Trainer Florian Kohfeldt seine Spieler in dieses Spiel der letzten Chance geschickt, dazu erstmals mit dem fast die ganze Saison wegen eines Kreuzbandrisses fehlenden Mittelstürmers Niclas Füllkrug. Nichts dem Zufall überlassen: Ob Werder ein 1:0 über die Zeit zittern sollte oder den Kantersieg anstreben durfte, das wollte der Trainer erst im Spiel entscheiden. Die wenigen Minuten zwischen 0:0 und 3:0 nahmen ihm die Entscheidung ab, Werder durfte die Schleusen öffnen, von da an war es auch egal, was zeitgleich in Berlin passieren würde. Werder hielt die Spannung, bis auf eine kleine Pause, nach dem 3:0, über das gesamte Spiel.

Stadionsprecher Arnd Zeigler, in der bisherigen Geisterspielsaison sehr zurückhaltend an seinem Mischpult, aktivierte beim 5:0 erstmals wieder das Nebelhorn, das Werder-Tore weit übers Stadion hinaus in der Stadt anzeigt. Beim 3:0 der Berliner rief er den Zwischenstand aus Berlin auf den Rasen, was ihm Trainer Kohfeldt zuvor noch mit den Fingern auf den Lippen untersagt hatte. Maximilian Eggestein riss die Arme in die Luft, das Spiel lief noch. Später hörte man die Vereins-Granden im Vip-Raum singen: "Schenk ein, schenk ein, es zahlt der Verein". Sich lösender Druck nimmt seltsame Wege.

Es war erst der zweite Heimsieg der Saison für die Bremer, die sechs Tore waren die Treffer zwei bis sieben unter Corona-Bedingungen im Weserstadion. Hunderte vom Ereignis überwältigte Fans versammelten sich nach dem Spiel draußen vor der Ostkurve, Bremens sehr kritischer Innensenator Ulrich Mäurer wird es nicht gerne gesehen haben. Es wird Appelle geben vor dem Hinspiel der Bremer am kommenden Donnerstag, man hörte schon am Samstag das Megaphon der Polizei. "Bleibt ihr bitte zuhause, wir machen das hier im Stadion", sagte Florian Kohfeldt an die Fans gerichtet. Die Botschaft an den Relegationsgegner aber lautet: Die Euphorie ist zurück in Bremen.

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SZ vom 28.06.2020/sonn
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