Süddeutsche Zeitung

SV Werder Bremen:Ab nach Heidenheim

Werder Bremen bekommt zwei Spiele, um eine völlig missratene Saison noch irgendwie zu retten. Die Fans feiern die unerwartete Chance fast so ausgelassen wie einen Titel.

Von Ralf Wiegand, Bremen

Es lag ein Hauch von Normalität über dieser langen Nacht von Bremen, und Normalität heißt in diesem Fall: Ausnahmezustand. Als Claudio Pizarro im Auto auf dem Heimweg durch Bremens Kneipenviertel fuhr, verursachte er kurzzeitig ein Kreuzungschaos, weil ihn feiernde Fans umringten. Pizarro, 41, winkte freundlich hinterm Lenkrad hervor in hundert glückliche Gesichter. Vor dem Stadion traf derweil die Polizei den richtigen Ton, indem sie übers Megafon immer wieder Werder Bremen zum Erreichen der Relegation gratulierte, bevor sie bat: "Aber bitte, haltet den Abstand." Grün-weiß beflaggte Autos hupten sich durch die Stadt, in den Biergärten saßen lauter Menschen in Trikots. Als ob der Fußball schon aus der Quarantäne entlassen worden wäre und Werder irgend etwas gewonnen hätte, den Pokal oder so, aber mindestens.

Es war die Form von Freude, die entsteht, wenn es gerade noch einmal gut gegangen ist. Wenn die Ehefrau einem verziehen hat und man wieder zuhause einziehen darf, oder wenn der TÜV der alten Rostlaube noch einmal zwei Jahre gibt. "Wir sind uns sehr bewusst, dass wir noch nichts erreicht haben", sagte Werders Trainer Florian Kohfeldt unmittelbar nach dem 6:1 gegen Köln, aber wer wollte das hören? Werders Fans waren einfach trunken vor Fröhlichkeit, dass ihr Verein beim großen Fußball-Kellner noch 'ne Runde bestellen durfte - zwei Relegationsduelle gegen den Zweitliga-Dritten Heidenheim.

Los geht's am Donnerstag in eigener Arena. Das Publikum in Bremen war vielleicht das kritischste der Corona-Zeit, weil hier die Frage, wem der Fußball gehört und welchen Zweck er zu erfüllen hat, auch ohne Pandemie immer heiß diskutiert wird. Pappzuschauer oder Fanplakate auf leeren Stehtribünen gab es in Bremen nicht. Doch die Zurückhaltung gegenüber dem Sonderspielbetrieb Bundesliga löste sich an diesem letzten Spieltag weitgehend auf, nun hingen da doch ein paar bepinselte Bettlaken, und der Mannschaftsbus wurde von klatschenden Fans freundlich empfangen. Es sollte nicht einfach so zu Ende gehen.

Schon nach dem Treffer von Werder Bremen zum 3:0 gegen den 1. FC Köln, da war keine halbe Stunde gespielt, wehten Gesänge von draußen ins leere Weserstadion herein, nach dem 6:1 bejubelten viele Hundert Menschen den so kunstvoll vermiedene Totalschaden. "Man hat vor dem Stadion die Emotionen gespürt", sagte Marco Bode, der Chef des Aufsichtsrats der Werder Bremen GmbH & Co KG aA und klang für eine Sekunde wie ein Arzt, der die Vitalfunktionen eines kritischen Patienten überprüft hat. Okay, lebt noch, weitermachen. Das 6:1 war Werders höchster Sieg seit elf Jahren, aber auch erst der zweite im Weserstadion seit Anfang September 2019. Der Weser-Kurier hatte diese unfassbare Serie neulich so veranschaulicht: Kinder, die beim letzten Heimsieg gezeugt wurden, sind jetzt schon geboren.

Bleibt Werder in der Bundesliga, "könnte das ein bedeutender Tag gewesen sein", sagt Marco Bode

"Die Saison bleibt trotzdem schlecht", sagte Marco Bode. Aber es liegt eben in der Gnade des Sports, dass er auch in der größten Enttäuschung immer wieder neue Ziele ermöglicht, die sich zum Erfolg umdeuten lassen. Aus Sicht eines Vereins, der den europäischen Wettbewerb erreichen wollte, ist Platz 16 eine Katastrophe. Für einen Verein, der zwischenzeitlich schon sechs Punkte hinter dem Relegationsplatz lag, ändert sich die Perspektive. Sollte Werder es jetzt in den nächsten beiden Spielen noch schaffen, die Klasse zu halten, sagte Bode am Samstag, "dann könnte das heute ein bedeutender Tag gewesen sein".

Ein mindestens ungewöhnlicher Tag war es schon jetzt. Die Mannschaft des 1. FC Köln präsentierte sich trotz aller Beteuerungen zuvor, in Bremen nichts herschenken zu wollen, wie ein Lieferservice. Dass Anthony Modeste nach der Klatsche noch einmal aus dem Kölner Bus stieg und Werders Fans fröhlich zuwinkte, dass Trainer Markus Gisdol ohne ein Wort des Bedauerns jede Kritik an seiner Mannschaft verweigerte, wird die innige Fan-Freundschaft zwischen dem Effzeh und Fortuna Düsseldorf sicher vertiefen. "Ich werde einen Teufel tun und jetzt auf meine Mannschaft einhacken", sagte Gisdol, jeder sei für sein Schicksal nun mal selbst verantwortlich - und der 1. FC Köln habe sein Ziel, den Klassenerhalt, erreicht.

Nur dafür war Gisdol nach dem elften Spieltag geholt worden, er ersetzte Achim Beierlorzer, mit dem die Kölner zu jenem Zeitpunkt auf dem vorletzten Platz lagen. Danach gewannen sie Spiel um Spiel, als wollten sie beweisen, dass der Trainerwechsel ein legitimes Stilmittel im Fußball ist und auch ein wirkungsvolles. Dass der 1. FC Köln mit nur sieben Punkten aus den letzten neun Spielen, der Corona-Phase also, schon wieder die drittschlechteste Mannschaft der Liga stellt und von einer tragfähigen Spielidee nichts zu sehen ist, steht auf einem anderen Blatt. Auch Fortuna Düsseldorf hat Friedhelm Funkel ausgetauscht, um am Ende wieder dort zu landen, wo Uwe Rösler die Elf übernommen hat - auf dem vorletzten Platz.

Auch in Bremen sei über die Personalie Florian Kohfeldt diskutiert worden, "kontrovers" sogar, wie Marco Bode am Sonntag bei Sport1 versicherte. Aber einerseits gehöre es "zur Werder-Philosophie, niemals leichtfertig den Trainer zu wechseln", zum anderen habe, "wenn man die Augen zumacht und die Ergebnisse beiseite legt, nichts dafür gesprochen, sich vom Trainer zu trennen". Kohfeldt hat seine Idee, wie er Fußball spielen lassen will, nie aufgegeben. Der Hauptgrund für den Absturz in dieser Saison, sagt Bode, habe in der Verletztenmisere gelegen, an dadurch verlorenen Abläufen, der gesunkenen Trainingsqualität.

Auch Kohfeldt selbst hat darauf immer hingewiesen und versprochen, es würde besser, wenn die wichtigen Spieler zurückkämen. Gegen Köln konnte er im letzten Saisonspiel erstmals mit Yuya Osako, Milot Rashica und Niclas Füllkrug, dem "Königstransfer", wie Bode sagte und der wegen eines Kreuzbandrisses fast die ganze Saison gefehlt hatte, in der Startelf beginnen. Sie schossen vier der sechs Tore. "Wir waren so oft tot, so oft abgeschrieben, jetzt sind wir für diese zwei Spiele wieder im Rennen", sagte Florian Kohfeldt im Medienraum, während draußen längst der ganz normale Ausnahmeszustand herrschte.

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Quelle:
SZ vom 29.06.2020/schm
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