Süddeutsche Zeitung

Bundesliga:Die Tabelle pfeift nicht

Der Stillstand der Fußball-Bundesliga hat nichts an den Kräfteverhältnissen ändern können, auf dem Rasen bleibt auch bei Werder Bremen alles beim Alten. Und doch ist alles anders - es fehlt die soziale Kontrolle der Fans.

Von Ralf Wiegand, Bremen

Irgendwann, es war schon fast 23 Uhr, tauchte Florian Kohfeldt noch einmal im Weserstadion auf, virtuell wenigstens, und redete. Kohfeldt, 37, Trainer des SV Werder Bremen, beherrscht den Umgang mit Worten besser als seine Mannschaft derzeit den Umgang mit dem Ball. Deshalb versuchte er, was er immer versucht nach solchen Spielen, er arbeitete rhetorisch nach, wo seine Spieler taktisch, technisch und strategisch Lücken gelassen hatten beim 1:4 gegen Bayern Leverkusen - und nicht nur da. Sie sind nun zehn Spiele ohne Sieg, stehen auf Platz 17 der Tabelle, mit fünf Punkten Rückstand auf den Relegationsplatz. "Die Basics" seien es, an denen gearbeitet werden müsse, sagte Kohfeldt von der Videowand herunter.

Pressekonferenzen gibt es in diesen verrückten Zeiten nicht mehr im Fußball. Journalisten können ihre Frage in eine Whatsapp-Gruppe laden, sie werden von einer Stimme im Off vorgelesen, die Trainer beantworten sie in eine Kamera hinein, deren Bild auf die Stadionleinwand übertragen wird. Der Ton hallt dann durchs menschenleere Stadion, prallt an leeren Betontribünen ab und fliegt irgendwann davon.

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Die Basics im Falle von Werder Bremen sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Wie ich eine Flanke verhindere; wie ich meinen Gegenspieler im Strafraum bewache; wann ich einen Angriff mit einem Torschuss abschließe und wann besser mit einem klugen letzten Pass; wie ich hinter die gegnerische Abwehrreihe komme; wie ich das Spiel bei Ballbesitz eröffne.

Wann, verdammt noch mal, haben die Bremer das eigentlich alles verlernt? So würde Florian Kohfeldt das natürlich nie sagen. Er vermisste die Basics bei Flanken des Gegners und Kopfbällen, weil drei davon gegen überlegene Leverkusener im Montagsspiel der Bundesliga zu Gegentoren geführt hatten, und wer solche Tore kassiert, immer wieder, der steigt am Ende sehr sicher ab. Damit das nicht passiert, müsse man an diesen Schwächen arbeiten, sagte Kohfeldt, erwähnte den fehlenden, aber sich sicher bald einstellenden Rhythmus, und dass seine Spieler "dieses Vertrauen in die Offensivkraft" behalten müssten. Spätestens da wurde es rätselhaft. Man konnte sich schon während des Vortrags fragen, wann genau in dieser komprimierten Rest-Corona-Saison, nach zehn Wochen Pause, die Zeit noch kommen soll, um das kleine Einmaleins des Abstiegskampfs nachzuholen. Aber jetzt: Offensivkraft? Welche Offensivkraft?

Die Wahrheit ist, dass diese Pandemie dem trostlosen Bremer Spiel nun die Kulisse verschafft hat, die dazu passt: gähnende Leere. Im Stadion ohne Zuschauer ist jedes Wort zu hören, und zu sehen sind nur die Akteure, ohne Kulisse. Das ist wie Vorsprechen im Theater auf leerer Bühne. Kohfeldt versucht, in allen kritischen Situationen Einfluss auf das Spiel zu nehmen, er fordert von diesem Spieler mehr Tiefe und von jenem den Sprint; "Pack zu, pack zu, lass ihn nicht mehr raus", ruft er Marco Friedl zu, wenn der im Laufduell mit dem Gegner an ihm vorbeihetzt. Auch wenn Kohfeldt vor dem Ehrentreffer von Theodor Gebre Selassie noch rief, "Theo, Körpersprache" und sich "Theo" dann tatsächlich breit genug machte, um den Eckball ins Tor zu lenken: Das Spiel der Bremer wirkt, wenn man es nicht nur sieht, sondern auch hört, wie die Fortsetzung des Unterrichts, nicht wie die Abschlussprüfung. Ein ewiger Lernprozess ohne Ergebnis.

Im Gegensatz dazu organisierte sich die Mannschaft von Bayer Leverkusen weitgehend selbst. Sie hat so viele einflussreiche Entscheider auf dem Platz, allen voran Kai Havertz (zwei Tore), dass Peter Bosz meist schweigend, mit den Händen in den Hosentaschen, nur zusehen brauchte, wie seine Spieler zeigten, was sie im Training und im Lauf der erfolgreichen Saison gelernt und während der letzten zwei Monate nicht verlernt haben. Wenn dazu noch individuelle Klasse kommt, wie die von Demirbay (ein Tor, eine Vorlage) und Diaby (zwei Vorlagen), dann geht es eben 4:1 aus für die viel bessere Mannschaft.

Der Bundesliga-Stillstand hat nichts an den Kräfteverhältnissen ändern können. Leverkusen ist noch immer eine Mannschaft mit Ziel, in diesem Fall die Champions League. Und Werder ist noch immer eine Mannschaft, die nach und nach alle Ziele aufgeben musste. Erst den Europapokal. Dann den einstelligen Tabellenplatz. Wenigstens eine sorgenfreie Saison. Den direkten Klassenerhalt. Irgendwann ist eine Mannschaft, die sich mal für besser hielt, nicht mehr in der Lage, der Verzwergung der eigenen Ziele noch Widerstand zu leisten. Das ist dann der Moment, in dem gegnerische Trainer, in diesem Fall Peter Bosz, feststellen, dass Werder doch "viel zu weit unten" stehe für ein Team dieser Qualität.

Auf diese Weise sind leider schon ganz andere Qualitätsmannschaften abgestiegen, unter wesentlich einfacheren Umständen als einer Pandemie. Zumal auch Werders jüngste Hoffnungen auf einen Neustart nach der erzwungenen Pause zerstoben ist. "Wir sind auf einem ganz anderen Level", hatte Kohfeldt vor dem Montagsspiel noch gesagt. "Das war noch nicht der K.-o.-Schlag", sagte er hinterher. Fallhöhe, gemessen in zwei Sätzen.

Eine Erkenntnis des 26. Spieltags ist eben, dass ein Fischstäbchen ein Fischstäbchen bleibt - man kann es nicht als Forelle wieder auftauen. Auch die durch Corona schockgefrostete Bundesliga zeigt sich in ihren Machtverhältnissen weitgehend unverändert. Nur die Berliner Hertha rebelliert gegen den auf sie gekübelten Hohn und Spott mit einem unerwartet klaren Auswärtssieg, alles andere ist gleich geblieben. Die torlosen Schalker, der fliegende Haaland, die dusseligen Düsseldorfer, die coolen Bayern, nichts hat sich geändert. Und doch ist alles anders.

(Achtung, die folgenden Absätze können Spuren von Fußball-Romantik enthalten!)

Gerade an einem Standort wie Bremen, der kühlen Stadt mit ihren warmherzigen, gelegentlich heißblütigen Fans, wird bewusst, wie trostlos diese Art von Aufführung ohne Publikum ist. Publikum heißt in diesem Fall: Menschen auf den Tribünen, an den Wurstständen, in den Straßenbahnen und an den Theken, nicht nur die Neugierigen vor der kostenlos freigeschalteten Pay-TV-Konferenz. Die messbare Wirkung von Fußball ist die Emotion, die er auslöst, das bejubelte Tor, der betrauerte Ausgleich, die gefeierte Meisterschaft und der beweinte Abstieg. Fußball ist, nicht am Spieltag zu heiraten, freitags 700 Kilometer durch Deutschland zu fahren, fremde Menschen zu umarmen. Fußball ist soziale Nähe, nicht Social Distancing, rausgehen statt daheimbleiben, zusammen sein statt alleine. Fußball mit Publikum ist das "Aaaaah" und "Uhhhh" von den Rängen, der Gesang, auf dem das Spiel schwebt, als eine Illusion. Fußball ohne Publikum ist nur noch das Stöhnen des getretenen Balles, die Verzweiflung des Trainers, das in den Wind gebrüllte Kommando des Torwarts. Desillusionierend.

Ob das Spiel gegen Leverkusen anders ausgegangen wäre, wenn die Bremer Ostkurve im Weserstadion der Mannschaft ihre unverbrüchliche Treue hätte zubrüllen dürfen wie sonst immer, egal, was passiert, weiß niemand. Zu vermuten ist: eher nicht. Dennoch ist es etwas anderes, wenn nun die Tribünen des Stadions nur noch dazu dienen, dass der Ball nicht in die Weser rollt. Dem Fußball fehlt die soziale Kontrolle durch die Fans.

Die Spieler, ohnehin manchmal schwer bei der Ehre zu packen, sehen die Auswirkungen ihrer Leistung nur noch in der Tabelle, nicht mehr in den Gesichtern. Sie hören die Hoffnung nur noch in den stets wiederholenden Ansprachen ihres Trainers, nicht mehr vom Fanspalier bei der Anfahrt des Mannschaftsbusses. Auf der Tribüne sitzen lediglich drei Handvoll professionelle Beobachter, denen vorher Fieber gemessen, zwei Mundschutze und ein Fläschchen Desinfektionsmittel überreicht wurde. Das ist nicht sehr beeindruckend.

In Bremen sind eindrucksvolle Erinnerungen zustande gekommen, die nur deshalb noch leben, weil es Zuschauer gab. Wer sich den Kutzop-Elfmeter des vorletzten Spieltags der Saison 1985/1986 auf Youtube noch einmal anschaut, sieht die Menschenmenge hinter Jean-Marie Pfaffs Tor und hört das kollektive Entsetzen, als der Ball an den Pfosten klatscht - Meisterschaft gegen die Bayern verspielt. Und wer sich anschaut, wie Werder am letzten Spieltag 2016 mit einem späten Tor gegen Eintracht Frankfurt die Klasse rettete, die Explosion der Freude, der friedliche Platzsturm, bekommt eine böse Ahnung, was den Bremern in den restlichen Spielen der Saison noch fehlen wird: die Irrationalität des Augenblicks, der Moment kollektiver Kraft. Gehört auch zu den Basics.

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Quelle:
SZ vom 20.05.2020/ska
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