Irgendwann, es war schon fast 23 Uhr, tauchte Florian Kohfeldt noch einmal im Weserstadion auf, virtuell wenigstens, und redete. Kohfeldt, 37, Trainer des SV Werder Bremen, beherrscht den Umgang mit Worten besser als seine Mannschaft derzeit den Umgang mit dem Ball. Deshalb versuchte er, was er immer versucht nach solchen Spielen, er arbeitete rhetorisch nach, wo seine Spieler taktisch, technisch und strategisch Lücken gelassen hatten beim 1:4 gegen Bayern Leverkusen - und nicht nur da. Sie sind nun zehn Spiele ohne Sieg, stehen auf Platz 17 der Tabelle, mit fünf Punkten Rückstand auf den Relegationsplatz. "Die Basics" seien es, an denen gearbeitet werden müsse, sagte Kohfeldt von der Videowand herunter.
Pressekonferenzen gibt es in diesen verrückten Zeiten nicht mehr im Fußball. Journalisten können ihre Frage in eine Whatsapp-Gruppe laden, sie werden von einer Stimme im Off vorgelesen, die Trainer beantworten sie in eine Kamera hinein, deren Bild auf die Stadionleinwand übertragen wird. Der Ton hallt dann durchs menschenleere Stadion, prallt an leeren Betontribünen ab und fliegt irgendwann davon.
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Die Basics im Falle von Werder Bremen sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Wie ich eine Flanke verhindere; wie ich meinen Gegenspieler im Strafraum bewache; wann ich einen Angriff mit einem Torschuss abschließe und wann besser mit einem klugen letzten Pass; wie ich hinter die gegnerische Abwehrreihe komme; wie ich das Spiel bei Ballbesitz eröffne.
Wann, verdammt noch mal, haben die Bremer das eigentlich alles verlernt? So würde Florian Kohfeldt das natürlich nie sagen. Er vermisste die Basics bei Flanken des Gegners und Kopfbällen, weil drei davon gegen überlegene Leverkusener im Montagsspiel der Bundesliga zu Gegentoren geführt hatten, und wer solche Tore kassiert, immer wieder, der steigt am Ende sehr sicher ab. Damit das nicht passiert, müsse man an diesen Schwächen arbeiten, sagte Kohfeldt, erwähnte den fehlenden, aber sich sicher bald einstellenden Rhythmus, und dass seine Spieler "dieses Vertrauen in die Offensivkraft" behalten müssten. Spätestens da wurde es rätselhaft. Man konnte sich schon während des Vortrags fragen, wann genau in dieser komprimierten Rest-Corona-Saison, nach zehn Wochen Pause, die Zeit noch kommen soll, um das kleine Einmaleins des Abstiegskampfs nachzuholen. Aber jetzt: Offensivkraft? Welche Offensivkraft?
Die Wahrheit ist, dass diese Pandemie dem trostlosen Bremer Spiel nun die Kulisse verschafft hat, die dazu passt: gähnende Leere. Im Stadion ohne Zuschauer ist jedes Wort zu hören, und zu sehen sind nur die Akteure, ohne Kulisse. Das ist wie Vorsprechen im Theater auf leerer Bühne. Kohfeldt versucht, in allen kritischen Situationen Einfluss auf das Spiel zu nehmen, er fordert von diesem Spieler mehr Tiefe und von jenem den Sprint; "Pack zu, pack zu, lass ihn nicht mehr raus", ruft er Marco Friedl zu, wenn der im Laufduell mit dem Gegner an ihm vorbeihetzt. Auch wenn Kohfeldt vor dem Ehrentreffer von Theodor Gebre Selassie noch rief, "Theo, Körpersprache" und sich "Theo" dann tatsächlich breit genug machte, um den Eckball ins Tor zu lenken: Das Spiel der Bremer wirkt, wenn man es nicht nur sieht, sondern auch hört, wie die Fortsetzung des Unterrichts, nicht wie die Abschlussprüfung. Ein ewiger Lernprozess ohne Ergebnis.
Im Gegensatz dazu organisierte sich die Mannschaft von Bayer Leverkusen weitgehend selbst. Sie hat so viele einflussreiche Entscheider auf dem Platz, allen voran Kai Havertz (zwei Tore), dass Peter Bosz meist schweigend, mit den Händen in den Hosentaschen, nur zusehen brauchte, wie seine Spieler zeigten, was sie im Training und im Lauf der erfolgreichen Saison gelernt und während der letzten zwei Monate nicht verlernt haben. Wenn dazu noch individuelle Klasse kommt, wie die von Demirbay (ein Tor, eine Vorlage) und Diaby (zwei Vorlagen), dann geht es eben 4:1 aus für die viel bessere Mannschaft.
Der Bundesliga-Stillstand hat nichts an den Kräfteverhältnissen ändern können. Leverkusen ist noch immer eine Mannschaft mit Ziel, in diesem Fall die Champions League. Und Werder ist noch immer eine Mannschaft, die nach und nach alle Ziele aufgeben musste. Erst den Europapokal. Dann den einstelligen Tabellenplatz. Wenigstens eine sorgenfreie Saison. Den direkten Klassenerhalt. Irgendwann ist eine Mannschaft, die sich mal für besser hielt, nicht mehr in der Lage, der Verzwergung der eigenen Ziele noch Widerstand zu leisten. Das ist dann der Moment, in dem gegnerische Trainer, in diesem Fall Peter Bosz, feststellen, dass Werder doch "viel zu weit unten" stehe für ein Team dieser Qualität.
Auf diese Weise sind leider schon ganz andere Qualitätsmannschaften abgestiegen, unter wesentlich einfacheren Umständen als einer Pandemie. Zumal auch Werders jüngste Hoffnungen auf einen Neustart nach der erzwungenen Pause zerstoben ist. "Wir sind auf einem ganz anderen Level", hatte Kohfeldt vor dem Montagsspiel noch gesagt. "Das war noch nicht der K.-o.-Schlag", sagte er hinterher. Fallhöhe, gemessen in zwei Sätzen.