Süddeutsche Zeitung

Werder Bremen:0:11 Tore in 118 Minuten

Lesezeit: 3 min

1:6 in München, 0:5 daheim gegen Mainz - der SV Werder hat sich in der Saisonplanung verkalkuliert - und steckt tief in der Krise.

Von Jörg Marwedel, Bremen

Zu gern hätte der Fußball-Voyeur in der Pause des Bundesligaspiels des SV Werder gegen Mainz 05 in die Kabine der Bremer geschaut. Dort hätte man beim Stand von 0:4 ein Lehrstück für eine Sportkrise erleben können. Es wurde gebrüllt, Werder-Trainer Florian Kohfeldt appellierte, wie er später sagte, an die Ehre seiner Profis. Doch all die Emotionen, die sich in den Katakomben entluden, nützten nichts. Als Sportchef Frank Baumann später nach der 0:5-Pleite vor die Medien trat, fasste er das Desaster so zusammen: Die Jungs würden sich "drinnen anschreien, dass die Wände wackeln, um sich zu pushen" - und wenn sie wieder draußen seien, dann würden sie wieder "alles über sich ergehen lassen". Heraus gekommen sei "ein Alibi-Gekicke" der schlimmsten Art.

Die dritthöchste Heimniederlage der 55-jährigen Bremer Bundesligageschichte war nicht nur für Aufsichtsratschef Marco Bode "einer der bittersten Momente", die er je bei Werder erlebt habe. Fußballerische Erklärungen wollte Kohfeldt gar nicht abgeben, es gehe eher um die Bereitschaft der Profis, die bislang noch nie infrage gestellt worden war. Vereins-Idol Claudio Pizarro, 41, sprach von einer "Schande", man habe den Trainer "im Stich gelassen". Coach Kohfeldt wiederum fügte an, für ein solches Spiel brauche man überhaupt keinen Trainer. Diesmal könne er sich, der das Team sonst stets verteidige, "vor nichts mehr stellen". Konsequenzen für einige Spieler schloss er nicht aus.

Die Galligkeit der Chefs steigert sich von Woche zu Woche. Wie kommt es, dass eine mittelmäßige Elf wie Mainz 05 oder neun Tage zuvor der Tabellenletzte Paderborn 07, der 1:0 im Weserstadion gewann, die Bremer so auskontern kann? Dass man innerhalb von 128 Minuten 0:11 Tore kassiert (beim 1:6 in München reichten den Bayern gerade mal 37 Minuten für das halbe Dutzend)? Wenn man nach Gründen für den Systemausfall forscht, merkt man, dass im Moment kaum mehr ein System mehr zu erkennen ist. Nur noch Profis mit Versagensängsten, die dem Tempo des Gegners wenig entgegen zu setzen haben.

Es ist bekannt, wie man die Bremer überrumpeln kann, die Mainzer etwa haben ihre Konter oft mit sieben blitzschnellen Profis inszeniert. Robin Quaison hatte nach nur 39 Minuten drei Tore erzielt. Einerseits, weil die verunsicherten Bremer nur "vor sich hingetrabt sind" (Baumann) und es generell an Grundschnelligkeit fehlt; andererseits, weil die Bremer bei Standardsituationen schlecht organisiert sind, wie beim 0:4 nach Eckball klar wurde.

Die Partie sei "so gelaufen, wie wir das wollten", resümierte der Mainzer Coach Achim Beierlorzer, der exakt die Bremer Schwachstellen kannte. Das Eigentor zum 0:2 (15.) war zudem Beleg dafür, dass sich in prekärer Lage ohnehin alles gegen Werder verschworen hat: Milos Veljkovic traf bei einer Rettungsaktion den Pfosten des eigenen Tores, vom Rücken des Torwarts Jiri Pavlenka flutschte der Ball ins Netz.

Die "Jahresendzeit" sei das richtige Datum, einmal die eigene Lage zu überprüfen, sagte Geschäftsführer Baumann. Und da muss er sich genauso wie Trainer Kohfeldt, über dessen Position man weiter nicht diskutieren wolle, vielen Fragen stellen. Zum Beispiel jene, ob man selbst die Mannschaft richtig zusammengestellt hat. Zudem hat man wohl unterschätzt, dass nach dem Abschied von Kapitän Max Kruse niemand mehr da ist, der die Kollegen mit einer selbstbewussten, oft rotzfrechen Art mitreißt. Alle gemeinten Führungsspieler - von Moisander über Nuri Sahin bis zu Davy Klaassen - haben es nicht annähernd so faustdick hinter den Ohren wie der abhanden gekommene Offensivregisseur.

Ein Profi wie der Japaner Yuya Osako, von dem Kohfeldt besonders viel hielt und der eine Art Kruse-Vertreter werden sollte, wirkt überfordert wie ein Schönwetterspieler bei Gewitter. Schon dem 1. FC Köln konnte er 2018 nicht helfen, als es dem Abstieg entgegenging. Dass die Spieler "das eigene Tor nicht mit ihrem Leben verteidigen", wie es Kohfeldt vor dem Mainz-Spiel forderte, hat wohl auch damit zu tun, dass dieses Team mit ballbesitz-orientiertem Fußball Europa ansteuern sollte. Nun soll es mit den Mitteln des Kampfes den Abstieg vermeiden. Die Umstellung ist offenbar schwierig. "Da unten wird anders gespielt", stellt Leonardo Bittencourt fest.

Auch, dass die Außenverteidiger Ludwig Augustinsson und Michael Lang gegen Mainz viele Flanken in den Strafraum schlugen, obwohl dort meist nur Milot Rashica (1,78 Meter), Leonardo Bittencourt (1,71) und gegen Ende der gerade erst genesene Fin Bartels (1,76) unterwegs waren, war nach den verletzungsbedingten Ausfällen der Stürmer Niclas Füllkrug (1,88) und Josh Sargent (1,85) keine gute Idee. Ob der derzeit verletzte Ömer Toprak, der vor der Saison aus Dortmund kam und als Verstärkung gefeiert wurde, die Defensive nachhaltig besser machen kann, bleibt nach ersten mittelmäßigen Einsätzen fraglich.

Baumann muss wohl in der Winterpause noch einmal nach Verstärkungen fahnden, sonst könnte es eine Spielklasse tiefer ein böses Erwachen geben. Trainer Kohfeldt hat vor dem letzten Duell des Jahres am Samstag in Köln nur noch einen bescheidenen Weihnachtswunsch. Man wolle "über dem Strich bleiben" - also einen Rang über dem Relegationsplatz 16.

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Quelle:
SZ vom 19.12.2019
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