"Tanking" in der NBA:Ein Alien macht die Liga verrückt

Victor Wembanyama

Auch für einen Basketballer ist Victor Wembanyama ein Riese. Weil er zudem Fähigkeiten hat wie sonst nur kleinere, agilere Spieler, wollen ihn alle haben.

(Foto: John Locher/AP)

Victor Wembanyama ist noch kein NBA-Spieler, aber ein solches Phänomen, dass die Basketballwelt kopfsteht. Wegen der Aussicht, den Franzosen zu holen, schenken Klubs schon jetzt die gesamte Saison ab.

Von David Kulessa

Die Sommerpause in der NBA war gerade einmal zwei Wochen alt, da trennten sich die San Antonio Spurs Ende Juni von ihrem besten Spieler. Das Basketballteam aus Texas, wo der legendäre Gregg Popovich, 73, seit einem Vierteljahrhundert Trainer und Entscheider ist, schickte Dejounte Murray, 26, nach Atlanta. Der Gegenwert, ein paar zusätzliche Auswahlmöglichkeiten in den kommenden NBA-Drafts, wirkte erstaunlich niedrig für einen Profi, der es vergangene Saison sogar ins All-Star-Team schaffte. Zumindest auf den ersten Blick.

Sportteams in den USA wollen meist entweder sehr gut sein - also um Meisterschaften spielen - oder sie wollen sehr schlecht sein, am liebsten am allerschlechtesten. Der Feind heißt Mittelmaß. Denn absteigen kann man in den geschlossenen Ligen nicht. Trotzdem soll eine weitgehend ausgeglichene Liga garantiert werden, deshalb wird das Team mit den meisten Niederlagen am Ende der Saison sogar belohnt: mit der ersten Wahl beim Draft, wenn im Sommer die größten Talente auf die Mannschaften verteilt werden. Das bewusste Verlieren, genannt "Tanking", hat Tradition in Amerikas Profiligen.

Das führt immer wieder zu Kritik, weil es selbstredend der Qualität des Produktes schadet, wenn einige Vereine gar kein Interesse daran haben zu gewinnen. Der Profiliga NBA ist dieses Problem zwar bewusst, und das Recht des Erstzugriffs wird deshalb mittels einer etwas komplizierten Lotterie ausgelost. Doch unterm Strich gilt auch hier: Die größten Chancen auf den besten Spieler hat das schlechteste Team der abgelaufenen Saison.

In zwei Testspielen in Las Vegas zeigte Wembanyama all sein Können

Und, da sind sich Beobachter einig, in der kommenden Saison lohnt es sich wie selten zuvor, die eigenen Fans mit Niederlagen zu quälen. Der Grund heißt Victor Wembanyama, 2004 im Pariser Vorort Nanterre geboren und etwa 2,24 Meter lang. Seit der 18-Jährige kürzlich mit seinem französischen Team Metropolitans 92 zwei Testspiele in den USA bestritt, kennt die dortige Basketballcommunity kaum ein anderes Thema mehr - und das, obwohl in einer guten Woche die neue Spielzeit beginnt. Ohne Wembanyama wohlgemerkt. Denn er ist noch zu jung für die NBA, sein Jahrgang darf sich erst kommendes Jahr zum Draft anmelden.

Victor Wembanyama

Ist der wirklich so groß? Ja, ist er. Victor Wembanyama überragt alle Kollegen.

(Foto: Ethan Miller/AFP)

Sein Potenzial ist schon lange bekannt. 2019 debütierte der Franzose als 15-Jähriger im Eurocup, in den vergangenen beiden Jahren wurde Wembanyama jeweils zum besten jungen Spieler in Frankreichs Liga gewählt. "Er kann einer der besten Spieler aller Zeiten werden", sagte Giannis Antetokounmpo kürzlich, der aktuell selbst zu den besten drei NBA-Profis zählt.

Dass Wembanyama das größte Talent seines Jahrgangs ist, darüber herrscht unter Experten spätestens seit seinen hervorragenden Auftritten bei der U19-WM im vorigen Jahr weitgehend Einigkeit. Zuletzt genügten ihm 48 Stunden in einer Mehrzweckhalle nahe Las Vegas, um auch die letzten Skeptiker zu überzeugen. Gegen die Talentauswahl G League Ignite um Scoot Henderson, Amerikas besten Spieler des Jahrgangs, erzielte Wembanyama in zwei Spielen 73 Punkte, traf neun Dreier (bei 18 Versuchen) und blockte ebenso viele gegnerische Würfe.

Seitdem wird jeder in der NBA nach seiner Einschätzung gefragt. Der frühere Spieler Richard Jefferson, heute Fernsehexperte, hält Wembanyama für besser als LeBron James im gleichen Alter. LeBron James selbst bemühte eine ungewöhnliche Analogie: "Er ist ein Alien." Tatsächlich fallen die Vergleiche schwer. James spricht wohl für die meisten, wenn er sagt: "So jemanden habe ich noch nie gesehen." Was nach Überreaktion klingt, ist in Wahrheit eine Wiederholung dessen, was Scouts schon seit Jahren sagen.

Wembanyama ist eine Einladung zum Verlieren

Nicht nur seine Größe ist beachtlich: Wembanyama ist schon jetzt offenbar so lang wie Boban Marjanović (224 Zentimeter), der aktuell Längste der NBA. Selbst nach den Maßstäben im Basketball ist der Franzose also ein Riese. Der Unterschied zu Spielern wie Marjanović: Er bewegt sich anders und hat andere Fähigkeiten, als man es von Spielern dieser Größe kennt und erwartet. Wembanyama spielt eher wie ein Flügel-, teils sogar wie ein Aufbauspieler. "Selbst wenn er 30 Zentimeter kleiner wäre, würden seine Fähigkeiten vermutlich ausreichen, um der erste Pick im Draft zu werden", erklärt Experte Torben Adelhardt, der für die deutschen Fachmedien GotNexxt und Jeden Tag NBA talentierte Basketballer beobachtet.

Wembanyama kann Sprungwürfe aus der Distanz, der Drehung und aus vollem Lauf verwandeln, hat eine Ballbehandlung auf Topniveau, ein gutes Passspiel sowie einen explosiven Zug zum Korb. Defensiv ist er ohnehin kaum zu schlagen, mit seiner Größe und Athletik gelingt es ihm, in aller Regelmäßigkeit sogar Sprungwürfe zu blocken. Kurzum: Victor Wembanyama lädt zum Staunen ein.

Und zum Verlieren. Nicht nur die San Antonio Spurs haben mit ihrer Kaderplanung im Sommer deutlich gemacht, dass sie die kommende Saison gerne herschenken für die Aussicht auf das vermeintliche Großtalent. Der Sender ESPN zitiert einen Ligamanager mit den Worten: "Wir werden einen Wettlauf Richtung Tabellenkeller erleben wie noch nie."

Das letzte Mal übrigens, als Gregg Popovich so gerne verlor, war in seiner Debütsaison 1996. Der Lohn damals: Tim Duncan, der anschließend eine der erfolgreichsten Ären im US-Sport prägte; fünf Mal wurden die Spurs mit Duncan Meister. Und Popovich ist inzwischen der Trainer mit den meisten NBA-Siegen der Geschichte.

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