Florian Wellbrock streckte vier Finger in die Höhe, nachdem er am frühen Sonntagmorgen als Erster vor der Insel Sentosa in Singapur ins Ziel gekommen war. Einen für jeden Weltmeistertitel im Freiwasser in dieser goldenen Woche. Zum Abschluss der Wettbewerbe im mehr als 30 Grad warmen Meer hatte Wellbrock mit der Mixed-Staffel Gold gewonnen. Nach Celine Rieder, Oliver Klemet und der Freiwasserdebütantin Isabel Gose war Wellbrock als Schlussschwimmer am Palawan Beach ins Rennen gegangen. Gose hatte ihm mehr als zehn Sekunden Vorsprung beschert, Wellbrock rettete den Titel 2,1 Sekunden vor der italienischen Staffel; Dritter wurde Ungarn. Im Ziel sagte Wellbrock völlig erschöpft: „Ich konnte gestern nicht gut schlafen, weil ich so nervös war. Ich wusste, wir können heute Geschichte schreiben.“
Zuvor hatte Wellbrock bereits über fünf und zehn Kilometer und im neu geschaffenen Knock-out-Sprint den Titel gewonnen. Es war sein neunter im Freiwasser, wo er nun der zweiterfolgreichste Athlet weltweit nach dem Würzburger Thomas Lurz (zwölf Titel) ist, und sein insgesamt zehnter bei Weltmeisterschaften. Nicht genug der Superlative: Noch nie zuvor hatte jemand mehr als zwei Freiwassertitel bei einer WM gesammelt – Wellbrock gewann nun in allen vier angebotenen Wettbewerben Gold. „Das war herausragend, Florian hat uns vor der Staffel signalisiert, dass er eigentlich nicht mehr kann“, sagte Bundestrainer Bernd Berkhahn.

Es sind Tage der vollkommenen Dominanz bei dieser WM im Freiwasser, nicht nur für Wellbrock, sondern auch für seine Magdeburger Trainingsgruppe. Rieder, Gose, Klemet, Wellbrock – sie alle üben dort unter Berkhahn. Und nicht nur sie. Auch die Australierin Moesha Johnson, Siegerin über fünf und zehn Kilometer, genießt die Vorzüge der seit Jahren erfolgreichsten Langstreckenbasis der Welt. Lukas Märtens, der Olympiasieger von Paris über 400 Meter Freistil, ebenfalls. Magdeburg hat in Singapur sechs der sieben überhaupt möglichen Freiwassertitel gewonnen.
Doch was macht diese streng überwachte Bubble aus? Und warum ist Wellbrock so erfolgreich?

Rekord-Schwimmerin:Das Einhorn des Wassers
Neunmal Gold: Katie Ledecky ist in Paris zur erfolgreichsten Schwimmerin und US-Sportlerin bei Sommerspielen aufgestiegen, nun kann die 27-Jährige sogar noch einen weiteren Rekord einstellen. Was sie so einmalig macht.
Der 27-Jährige betonte selbst, nach dem Debakel bei den Olympischen Spielen in Paris im Freiwasser und im Becken sein Karriereende erwogen, aber zu neuer Kraft gefunden zu haben. Auch weil er die Psychotherapeuten, die ihn betreuten, wechselte. Doch das ist längst nicht der einzige Grund für den Erfolg.
Die drei jährlichen Höhentrainingslager in der spanischen Sierra Nevada, oder, wie vor der WM, in den französischen Pyrenäen, sind ebenfalls ein Schlüssel dafür. Dort konnten die Schwimmer unter Idealbedingungen in Ruhe trainieren – inklusive knallhartem Ergometer-Training in speziellen Hitzekammern bei 39 Grad, wie Berkhahn vor der WM berichtete. Auch die Becken waren weitaus wärmer als normalerweise: Anpassung an die Hitze in Singapur.
In den Höhentrainingslagern analysieren neben Berkhahn und Diagnostik-Bundestrainer Alexander Törpel auch Wissenschaftler des Instituts für angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig minutiös Leistungsdaten. 1992 gegründet, ist das IAT das zentrale Forschungsinstitut des deutschen Spitzen- und Nachwuchsleistungssports. Weit mehr als 100 Mediziner, Biomechaniker und Informatiker arbeiten dort nicht weit entfernt vom Fußballstadion von RB Leipzig für den Erfolg der Athleten.

Wer einmal einen Blick hineinwerfen durfte, wie bei einem Medienworkshop im Juni vor den Sommerspielen in Paris, der lief an Laboren mit Wissenschaftlern vorbei, vor denen Athleten auf Laufbändern schwitzten, den Mund in einem Gerät steckend, das die Sauerstoffsättigung misst. 3D-Scans, Laktatmessung, Schlagkraft beim Boxen, es gibt dort Analysen für alles. Im Strömungskanal trainierten damals die Paralympics-Schwimmer, auch die spätere Goldgewinnerin Elena Semechin. Bei 1,41 Metern pro Sekunde Gegenströmung versuchte sie, ihre Brustlage zu halten. Man kann die Sportler dort auch aus einem breiten Fenster unter Wasser beobachten, Kameras nehmen jede Bewegung auf. In Magdeburg haben Wellbrock und Co. einen ähnlichen Kanal.
„Speziell mit der Trainingsgruppe Berkhahn sind wir in engem Austausch“, sagt Jens Graumnitz, Fachgruppenleiter Schwimmen am IAT, am Samstag am Telefon. Es geht um ein möglichst allumfassendes Bild, bei dem der physische und psychische Belastungszustand geprüft wird, Bewegungsabläufe, die Technik.
Im Höhentrainingslager arbeiten die Trainer und Wissenschaftler neben den Hitzekammern mit mobilen Messplatten, um die Startgeschwindigkeit und den Abdruck bei Wenden zu bestimmen. Die Sportler messen ihren Ruhepuls vor dem Aufstehen im Bett, das Körpergewicht. In einer Skala von 1 bis 5 bewerten sie ihre emotionale Ausgeglichenheit, in einer Skala von 1 bis 10 ihr Belastungsempfinden. Schlafdauer und -qualität, die Sauerstoffsättigung. All die Daten tragen sie in eine App ein – die Wissenschaftler formen daraus mit einer speziellen Software Tabellen und Grafiken, die die Bundestrainer sofort zur Hand haben. Selbst der aktuelle Luftdruck am Ort wird gemessen. „Das ist auch ein Erziehungsprozess für die Sportler“, sagt Graumnitz, „es geht auch darum, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.“
Die Gruppe wird bei der Zahl der Dopingtests nicht gerade vernachlässigt
Und das Thema Doping im Ausdauersport Langstreckenschwimmen? 4018 Anti-Doping-Tests haben die Schwimmerinnen und Schwimmer, die an der WM in Singapur teilnehmen, laut Weltverband World Aquatics dieses Jahr bis 7. Juli über sich ergehen lassen – also im Schnitt zwei pro Athlet. Bei Wellbrock waren es laut der Detailauswertung sieben Tests. Bei Märtens: ebenfalls sieben. Bei Gose: sechs. Klemet: fünf. Rieder: fünf. Die Australierin Johnson, die in der Magdeburger Gruppe trainiert: fünf. Die Gruppe wird demzufolge nicht unbedingt vernachlässigt bei der Anzahl der Tests.
Berkhahn sagte der SZ, nachdem Märtens in Stockholm im April den Paul-Biedermann-Weltrekord über 400 Meter Freistil pulverisiert hatte und als erster Mensch unter der Grenze von 3:40 Minuten geblieben war: „Wir dopen nicht. Unsere Athleten werden sehr häufig kontrolliert, sodass es unmöglich wäre, unentdeckt zu bleiben. Es ist unser Ehrgeiz, die anderen mit legalen Mitteln zu schlagen.“
Mittel, bei denen das IAT in Leipzig eine vielleicht entscheidende Rolle spielt. Auch wenn Graumnitz in aller Bescheidenheit sagt: „Wir sind nur unterstützend tätig.“ Es kommt eben auf das Zusammenspiel aller Elemente an. Und diese Verzahnung hat dem deutschen Schwimmen nun das erfolgreichste Freiwasserergebnis der Geschichte eingebracht.

