Süddeutsche Zeitung

Weihnachtssingen im Fußballstadion:"Scheiß Dynamo" in der stillen Nacht

  • Vor elf Jahren stiegen 89 Fans des 1. FC Union Berlin in ihr Stadion ein, um bei klirrender Kälte auf dem Platz Weihnachtslieder zu singen.
  • Aus der Aktion einiger weniger wurde ein Massenspektakel: Tausende Menschen versammeln sich nun jedes Jahr in dem Köpenicker Stadion. Pfarrer Peter Müller liest die Weihnachtsgeschichte vor.
  • Neben besinnlichen Weihnachtsliedern ertönen auch immer wieder Fußball-Schlachtgesänge. Und es wird auch politisch - wenn Pfarrer Müller über die Not und Angst der Flüchtlinge spricht.

Von Ulrich Schäfer, Berlin

Als Peter Müller, Pfarrer im Ruhestand, vor gut zehn Jahren einen Anruf von Torsten Eisenbeiser erhielt, da fragte er sich: "Warum gerade ich?" Der Anrufer, seit 1969 ein eingefleischter Fußball-Fan des 1. FC Union Berlin, wollte den ehemaligen Geistlichen der Köpenicker St. Laurentius-Gemeinde dazu bewegen, die Weihnachtsgeschichte vorzulesen: nicht in der Kirche, nicht in einem Gottesdienst - sondern in einem dunklen, unbeleuchteten Fußball-Stadion.

Ein Jahr zuvor waren am Tag vor Heiligabend 89 Fans des Fußball-Zweitligisten 1. FC Union Berlin über den Zaun des Stadions in Köpenick gestiegen und hatten am Mittelkreis in klirrender Kälte Weihnachtslieder gesungen. Nur ein paar Kerzen leuchteten, und vielleicht auch die Wangen des ein oder anderen, der ein wenig zu viel Glühwein getrunken hatte. Gemeinsam hatten sie zum Abschluss des Jahres, das für den Verein nicht ganz so erfolgreich war, besinnliche Lieder gesungen. Schön sei's gewesen, bewegend, doch eines, sagt Eisenbeiser, der die spontane Aktion organisiert hatte, habe damals gefehlt: die Weihnachtsgeschichte.

Und deshalb suchte er einen leibhaftigen Pfarrer. 300, 400 Fans kamen wenige Wochen später, als Müller erstmals im Stadion die Weihnachtsgeschichte las. Seit zehn Jahren macht er das nun, immer am 23. Dezember, und als er diesmal auf die Bühne in der "Alten Försterei" tritt, da steht er im gleißenden Scheinwerferlicht: 27.500 Fans sind zum mittlerweile traditionellen Weihnachtssingen in das Stadion des 1. FC Union gekommen, und sie skandieren: "Es gibt nur einen Peter Müller, einen Peter Müller."

Müller trägt, so wie jedes Jahr, den rot-weißen Fanschal in den Farben des Vereins. Er war nie ein Fußball-Fan, er hat bis zu jenem Abend im Jahr 2004 nie ein Spiel des Fußballklubs aus Köpenick gesehen, und nur einmal zuvor war er überhaupt in dem Stadion: 1987 hatte er hier den Abschlussgottesdienst des Evangelischen Kirchentags gefeiert. Doch mittlerweile hat Müller eine große Liebe zu dem Arbeiterklub aus dem Südosten der Hauptstadt und seinen Fans entwickelt. Den Schal hat seinen Frau gestrickt, sie hat zwei rot-weiße Kreuze drauf genäht - wie bei einer Stola, die er sonst zusammen mit seinem Messgewand in der Kirche trägt. "Is ja ein Hammer", hat mal ein Union-Fan gesagt, als er das sah.

Der Reiz des Wilden und Unkonventionellen

Das Weihnachtssingen des 1. FC Union Berlin: Es hat noch immer sein ursprünglichen Reiz des Wilden, des Unkonventionellen, auch wenn daraus inzwischen ein Großereignis geworden ist, mit Sponsoren, Fernsehübertragung und VIP-Bereich auf der Haupttribüne für die wichtigen Gäste. Wer aber nicht wichtig ist, wer ein normaler Fan ist, der stapft durch einen dunklen Wald zum Stadion, über einen breiten Trampelfpfad, der immer wieder durchbrochen ist von riesigen Pfützen. Bis zum letzten Jahr gab es hier kein Licht, man lief im Schein der Handy-Taschenlampen zur Alten Försterei, diesem Stadion, das die Fans mit ihren Händen und ihrem Geld in den letzten Jahren mit ausgebaut haben. Nun hat man ein paar Baumstämme in den Boden gerammt, mit Leuchten daran.

Und als es dann losgeht, als um kurz nach 19 Uhr das Flutlicht ausgeht, es dunkel wird und nur noch viele Tausend Kerzen im Stadion funkeln, da packt viele wieder die Gänsehaut. Fast 30.000 Menschen singen aus voller Brust "Ihr Kinderlein kommet" oder "Stille Nacht, Heilige Nacht". Sie stehen auf den Rängen und auf dem Spielfeld, dessen Rasen - um ihn zu schonen - mit Plastikplatten belegt wurde.

Im vorigen Jahr war das Stadion so voll mit Sängern, darunter auch mit einigen Hertha-Fans in blau-weiß, dass dieses Mal erstmals Eintrittskarten ausgegeben wurden. Die Union-Fans rund um Torsten Eisenbeiser, die gemeinsam mit dem Verein das Singen organisieren, haben das selber entschieden: per Votum im Internet, um des Andrangs Herr zu werden. Der Erlös, so wurde beschlossen, fließt in die Nachwuchsarbeit.

Aber noch lauter als die Weihnachtslieder erschallen an diesem Abend immer wieder die Schlachtgesänge des 1.FC Union. Kaum dass die letzten Zeilen von "Alle Jahre wieder" verklungen sind, tönt aus den Kehlen das Lied "Wir sind Unioner", mit dem Refrain "treu bis in den Tod. Ein paar Mal schallen auch "Scheiß Dynamo!"-Sprechchöre von der Tribüne. Dynamo Berlin - das ist der in Köpenick verhasste ehemalige Stasi-Fußballklub. Und der andere Konkurrenzverein aus der Hauptstadt bekommt ebenfalls eine gehörige Portion Spott ab: "Siehste Hertha, so wird das gemacht", singen die Union-Anhänger. Selbst der Weihnachtsmann ruft, als er auf die riesige Bühne am Mittelkreis klettert, ins Mikrofon; "Der beste Schlachtruf der Nation..." Und als Reaktion darauf tönt es minutenlang durchs Stadion: "Eisern Union! Eisern Union!"

Ein wenig politisch

Auch Peter Müller, der Pfarrer, hat diesen Schlachtruf längst gelernt. Wenn er während des Jahres durch Köpenick läuft, wird er manchmal von wildfremden Menschen angesprochen. "Unser Pfarrer", sagen sie dann. Oder rufen ihm ein "Und niemals vergessen..." entgegen, den anderen Teil des Union-Schlachtrufs. Müller antwortet dann: "Eisern Union!" Er sagt über solche Momente: "Da merke ich: Ich bin angekommen und angenommen."

Ein wenig politisch wird es auch beim Weihnachtssingen. Ehe Müller die Zeilen aus dem Lukas-Evangelium liest, spricht er über Krieg und Frieden und über die Flüchtlinge, die aus Not und Angst vor dem Tod nach Deutschland flüchten. Er wirbt um Verständnis für sie, so wie es der Klub sonst auch tut: Vor ein paar Wochen hatte der 1. FC Union seine Fans aufgerufen, an einer Mahnwache für Flüchtlinge teilzunehmen. In diesem Augenblick erscheinen die Bilder des Vorabends ganz weit weg: Da trafen sich in Dresden Tausende von Pegida-Demonstranten und sangen ebenfalls Weihnachtslieder. Es war auch im Osten - aber ganz anders.

Nach 90 Minuten ist das Weihnachtssingen im Stadion vorbei. Noch einmal erklingt ein Schlachtgesang, und als man wenig später dann wieder über den Trampelpfad mit den Pfützen stapft, im Strom der rot-weißen Fans, hat man noch einen Refrain des Abends in den Ohren, in dem die Union-Anhänger davon träumen, dass ihr Klub Deutscher Meister wird. Das ist für den Zweitligisten noch ein weiter Weg. Aber Deutscher Meister im Weihnachtssingen - das sind sie in Köpenick schon jetzt.

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