Wechsel zum FC Chelsea:Rüdiger steigt zum Schwerathleten auf

Germany v Cameroon: Group B - FIFA Confederations Cup Russia 2017

Räumt bald in London auf: Antonio Rüdiger.

(Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Antonio Rüdiger wechselt für 38 Millionen Euro von Rom zum FC Chelsea.
  • Der deutsche Nationalspieler passt aufgrund seiner physischen Spielweise gut zum englischen Fußballstil.
  • Er profitiert davon, dass der Transfermarkt nur wenige gute Verteidiger zu bieten hat.

Von Christof Kneer

Sahr Senesie, ehemaliger Fußballprofi und Halbbruder von Antonio Rüdiger, hat die Geschichte mal erzählt. Er hat erzählt, wie die großen Jungs damals im Berliner Bezirk Neukölln in einem dieser Bolzplatzkäfige kickten, und wie der kleine Antonio fragte, ob er auch mitspielen dürfe.

Wie er dann eine Absage kassierte und stattdessen halt ein eigenes Bolzplatzteam gründete, ein Team aus lauter kleinen Jungs, das gegen die großen Jungs angeblich nur ganz knapp verlor. Und natürlich muss es die Pointe dieser Geschichte sein, dass der kleine Antonio der beste Bub auf dem ganzen Bolzplatz war.

Man kann sagen, dass der kleine Antonio inzwischen doch etwas größer geworden ist, es geht inzwischen so in Richtung 1,90 Meter, und über den Berliner Bolzplatz ist er auch längst hinausgewachsen. Er war in Dortmund (Jugend), Stuttgart (Jugend und Profis) und Rom (Stammspieler in der Serie A), und jetzt hat er es in die bisher größte Stadt seines Lebens geschafft: Der FC Chelsea aus London hat die Verpflichtung des DFB-Nationalverteidigers bekannt gegeben, und die großen Jungs vom Bolzplatz können sich damit trösten, dass der Kleine, der damals besser war als sie, inzwischen 38 Millionen Euro wert ist.

Unterstellt man die branchenüblichen klein gedruckten Vertragspassagen, darf man davon sogar ausgehen, dass Antonio Rüdiger den englischen Meister am Ende mehr als 40 Millionen Euro kosten dürfte.

Eine Summe, die mindestens zwei Fragen provoziert. Erste Frage: Darf man für einen Abwehrspieler überhaupt so viel Geld ausgeben? Zweite Frage: Und dann ausgerechnet für Antonio Rüdiger?

Top-Verteidiger oder Pseudo-Boateng?

Rüdiger, 24, hat immerhin 17 Länderspiele für die deutsche Nationalmannschaft bestritten, zuletzt sogar ziemlich souverän das Confed-Cup-Finale in Sankt Petersburg, und doch gehört er immer noch zu den Spielern, die den Leuten auf der Straße wahrscheinlich nicht einfallen würden, wenn sie die Nationalspieler aufsagen müssten. Das liegt zum einen daran, dass die DFB-Elf üblicherweise auch ohne Rüdiger eine Innenverteidigung hinbekommt, die man ruhig mal aufstellen kann, bestehend aus den sogenannten WM-Ochsen von 2014, Jérôme Boateng, Mats Hummels und auch Benedikt Höwedes.

Es liegt aber auch daran, dass die Leute bisher noch kein so klares Bild von diesem Rüdiger haben: Ist dieser mustergültige Schwerathlet der neue Boateng, geschmeidig im Zweikampf, bedrohlich im Kopfball und schneller, als es die Stadionpolizei erlaubt? Oder ist er doch nur ein Pseudo-Boateng, weil er zum Beispiel nicht über dessen Aufbauspiel und die Gabe des mehrere Linien überfliegenden Diagonalpasses verfügt?

Ein 38 Millionen teures, wuchtiges Spektakel

Fest steht, dass Rüdiger im Moment der beste Rüdiger ist, der er bisher war. Beim VfB Stuttgart war er noch ein Spieler für den gnädigen TV-Zusammenschnitt: Wer Rüdigers beste Szenen aneinanderreihte, bekam ein wuchtiges Spektakel zu sehen, das sich irgendjemand bestimmt mal 38 Millionen kosten lassen würde. Blöd wäre nur gewesen, wenn man den anderen Zusammenschnitt erwischt hätte: jenen, der Rüdigers Stellungsfehler oder wilde Grätschen gezeigt hätte oder auch mal eine Torvorlage, wobei das Tor dann immer dem Gegner angerechnet wurde. Inzwischen ist aus dem Zusammenschnitt-Verteidiger aber ein Verteidiger für nahezu 90 Minuten geworden; Rüdiger hat sein Spiel beim AS Rom stabilisiert und zur Ruhe gebracht.

Antonio Rüdiger zählt inzwischen zu den angesagteren jungen Verteidigern in Europa, was gewiss für ihn, aber gleichzeitig gegen den Markt spricht. Es ist nicht verboten, für den Verteidiger Rüdiger eine Fantasie zu entwickeln, ihn an seinen Höhen zu messen und auf eine wenigstens ähnliche Entwicklung wie bei Boateng zu hoffen, der - fast vergessen - eine Weile ebenfalls durch wilde Grätschen und Torvorlagen für den Gegner auffiel. Dass diese Fantasie aber ausreicht, um gleich den englischen Meister zu entzücken, zeigt, dass der Fußball auf einer seiner Kernpositionen aktuell nicht herausragend aufgestellt ist.

Gute Nachricht für Deutschland

Boateng, Hummels, Ramos, Varane, Bonucci, Thiago Silva, vielleicht noch Koscielny: Viel mehr echte Weltklasse bietet der Markt bei den Innenverteidigern zurzeit nicht an, weshalb Spieler wie Rüdiger oder DFB-Kollege Shkodran Mustafi bereits als (entsprechend teure) Raritäten gelten; Mustafi wechselte vor einem Jahr für eine fast identische Summe zum FC Arsenal.

Für den deutschen Fußball ist diese Marktlücke sogar eine gute Nachricht: Der DFB-Markt ist gegen den Trend im Wachstum begriffen. Nachdem die Nachwuchszentren vor ein paar Jahren noch Zweikampfvermeider und Raumbewacher förderten, sind die Fortschritte im Karl-Heinz-Förster- und Jürgen-Kohler-Land jetzt unverkennbar: Im Deckungsschatten von Boateng und Hummels sind nicht nur Spieler wie Rüdiger und Mustafi, sondern auch spannende Talente wie Niklas Süle, Jonathan Tah oder Niklas Stark emporgewachsen, die neben dem gepflegten Pass auch den guten, alten Zweikampf zu schätzen wissen. Süle, 21, ist gerade zum FC Bayern gewechselt, der in der Abwehr übrigens erst recht gegen den Trend besetzt ist. Süle trifft in München die Weltklasse-Innenverteidiger Jérôme Boateng, Mats Hummels, Javier Martinez und Manuel Neuer.

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