Hagen Stamm:Übervater des deutschen Wasserballs

Wasserball - Bundestrainer Hagen Stamm bei der Schwimm-WM 2019

Bundestrainer Hagen Stamm gibt Anweisungen.

(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Hagen Stamm war als Bundestrainer zurückgetreten. Er ließ sich noch mal überreden - und schafft mit seinem Team im WM-Viertelfinale trotz Niederlage eine Sensation gegen den Weltmeister.

Von Claudio Catuogno, Gwangju

Am Tag vor dem großen Spiel sitzt der Wasserball-Bundestrainer Hagen Stamm, 59, in einem Plastikstuhl neben dem Pool der Yeomju-Sporthalle von Gwangju und spricht gerade über den trainingswissenschaftlichen Zusammenhang von Biertrinken und WM-Siegen, da kommen aus der Umkleide die Kroaten angeschlendert, die aktuellen Weltmeister und Gegner der Deutschen am Dienstag im WM-Viertelfinale. Stamm erblickt Ivica Tucak, den Trainer, und noch ehe man sich begrüßt, hat Stamm schon einen Spruch auf den Lippen. Na, ruft er Tucak entgegen: "Are you a bit afraid of Germany?"

Die Kroaten? Angst vor Deutschland? Großes Gelächter am Trainingspool.

Vor den deutschen Wasserballern musste sich bis vor kurzem ja wirklich niemand fürchten. Zwei Olympische Spiele und zwei Weltmeisterschaften fanden ohne sie statt. Und wurden sie nicht neulich noch von den Kroaten mit 22:10 abgefertigt? Verloren sie nicht bei der EM mit 1:14 gegen Italien? Ja, alles richtig. Allerdings dürfte auch Ivica Tucak mitbekommen haben, dass sich Stamms Truppe diesmal, in der WM-Vorrunde, gegen Italien ein respektables 7:8 erarbeitete. "Der soll sich jetzt ein paar Gedanken machen", sagt Stamm, als Tucak davon schlendert. Du musst in die Köpfe der Leute kommen - das ist auf ganz vielen Ebenen bis heute das Erfolgsgeheimnis von Hagen Stamm.

"Eine deutsche Mannschaft muss ihre Defizite immer mit Schläue und Motivation ausgleichen."

In die Köpfe kommen, das kann er wie kein Zweiter. Und wenn man sich jetzt wundert, wie er das hingekriegt hat, diese Wiederbelebung der Wasserballer punktgenau zur WM in Südkorea, kann man mit Hagen Stamm zum Beispiel über Biertrinken reden.

Vor ihm auf den Fliesen liegen seine Spieler und bearbeiten die Muskeln konzentriert mit Faszienrollen, professionelle Athleten, das schon. Bloß: Das Athletendorf in Gwangju ist eine sterile Bettenburg, "so gemütlich wie ein Nagelbrett", morgens streichen sich Stamms Männer die Butter mit einer Plastikgabel auf den Toast, weil Messer nicht zur Verfügung stehen. Da verlangt es quasi der gesunde Trainerverstand, mal für Abwechslung zu sorgen. Und nachdem die Deutschen sogar vorzeitig für die K.-o.-Runde qualifiziert waren und dort in Südafrika ein absoluter Außenseiter wartete, hat Stamm eben begonnen, von Bier zu reden.

Er habe schon überlegt, mit den Jungs "zum Biertrinken nach Hongkong zu fliegen", verkündete er, aber das war erstens ein Scherz und zweitens nicht nötig. In Gwangju "findet gerade so ein Bierfestival statt", da waren sie miteinander. Es war ein lustiger Abend. Um 22 Uhr war er allerdings auch schon wieder beendet.

Um den Wasserball wieder in die Köpfe der Leute zu kriegen, reicht es nicht, ihnen von Perspektivkadern und Zielvereinbarungen zu erzählen, das war bei Stamm immer schon Teil des Programms. Als im September das WM-Quali-Turnier in Berlin stattfand, warb Stamm mit der Verheißung um eine ansprechende Heim-Kulisse, dass angesichts seiner attraktiven Spieler "die Halle normalerweise voller heiratswilliger Frauen sein" müsste. Wo Stamm ist, ist Betrieb, so ist er nun mal, und wo Betrieb ist, da kann doch auch kein DOSB und kein DSV auf die Idee kommen, die Wasserballer in die Bedeutungslosigkeit abgleiten zu lassen, oder?

Geschadet hat den Deutschen ihr Ausflug aufs Bierfestival natürlich nicht. Das 25:5 gegen Südafrika war ihr höchster Sieg in der WM-Geschichte. Selbst jenes Team, mit dem Stamm 1984 mit Bronze in Los Angeles die bislang einzige Olympia-Medaille für den deutschen Wasserball gewann, hat so ein Resultat damals nicht hingekriegt.

Und nun? "Noch zwei Siege bis zum Vizeweltmeister, dann haben wir uns hier für Olympia qualifiziert", sagt Stamm. Das war am Montag. Wieder ironisch gemeint, natürlich. Wobei: Weiß man's? Hallo Weltmeister Kroatien, a bit afraid of Germany?

Die Antwort dann ein Tag später: Und ob! Bis in die letzten Minuten hielten die Deutschen das Viertelfinale spannend, von einem zwischenzeitlichen 3:7 holten sie auf bis 7:7, "die Kroaten waren nervös heute", sagte Hagen Stamm nach dem Spiel. 8:10 mussten sich die Deutschen dem Weltmeister schließlich geschlagen geben. Und trotzdem: "Natürlich bin ich traurig, aber alle, die das heute gesehen haben, werden sagen: Das war eine Sensation", sagte Stamm. "Also eigentlich bin ich wahnsinnig stolz."

Ende 2016 ließ er sich noch mal überreden

Eigentlich war Stamm 2012 schon zurückgetreten nach zwölf Jahren als Bundestrainer. Seinen Nachfolger hatte er selbst aufgebaut, als Co-Trainer im Verband und als Cheftrainer beim Rekordmeister Wasserfreunde Spandau 04, wo Stamm der Präsident ist: den Serben Nebojsa Novoselac, damals Ende dreißig. Das Problem war dann nur, dass Novoselac den deutschen Wasserballern unbedingt beibringen wollte, besser Wasserball zu spielen. Strukturierter, taktischer. Mit den halbprofessionellen Strukturen einer Nischensportart haderte Novoselac so ausgiebig, dass er in die Köpfe seiner Spieler ebenso wenig vordrang wie sein Nachfolger Patrick Weissinger. Partien gegen nominell stärkere Teams gingen fast immer verloren. Aber wieso soll in Deutschland irgendwer Wasserball spielen, wenn es noch nicht mal Spaß macht? "Eine deutsche Mannschaft muss ihre Defizite immer mit Schläue und Motivation ausgleichen", sagt Stamm.

Also ließ er sich Ende 2016 - obwohl er mit seinem Fahrradgroßhandel und dem Amt in Spandau genug zu tun hätte - noch mal überreden. Nicht nur vom Verband, vor allem von seinem Sohn Marko, dem Spielmacher des Teams, der 2020 unbedingt noch mal zu Olympia will. "Haben Sie Kinder?", fragt Hagen Stamm jetzt in seinem Plastikstuhl in Gwangju. "Eben. Blut ist dicker als Wasser." Zumal bei einem, der ja nicht nur der Vater eines deutschen Wasserballers ist, sondern auch der Übervater des deutschen Wasserballs.

"Aber ich weiß natürlich, welche Frage Sie jetzt noch stellen müssen", sagt Stamm: "Ja, 2020 ist definitiv Schluss." Kein Hintertürchen, nirgends. Wie es dann weitergeht? Schwer zu sagen. Vielleicht muss doch wieder ein Ausländer kommen. Er könnte immerhin eine funktionierende Mannschaft übernehmen. 8:10 gegen Kroatien! Hallo? Wann hat es so ein Ergebnis zuletzt gegeben?

"Herausforderungen reizen mich ja"

Aber wie hat Stamm das nun also hingekriegt, dass die Deutschen ihr ambitioniertes WM-Ziel, Rang acht, trotz der knappen Niederlage gegen die Kroaten längst erreicht haben? Ehe nun die letzten Platzierungsspiele anstehen? Schritt für Schritt. 2017 machte er vier harmlose Freundschaftsspiele gegen die Franzosen aus. Gegen die hatten die Deutschen kurz zuvor verloren. "Die Spiele haben wir professionell vorbereitet, auch konditionell. Wir haben sie vier Mal geschlagen." Das war der erste Schritt. Dann ein Turnier mit Griechenland und Montenegro. Ein Sieg, ein Remis. Spiel für Spiel begannen die Deutschen wieder an sich zu glauben. Junge Talente wie Ben Reibel und Denis Streletzkij fanden den Weg ins Team. Und sie bürgerten den Spandauer Lucas Gielen ein, einen Niederländer. Erst kurz vor der WM kamen die Papiere. Jetzt ist er ein Leistungsträger, sie nennen ihn "den schwimmenden Holländer".

Zu Olympia nach Tokio ist der Weg trotzdem noch weit: Er führt durch zwei Nadelöhre: die EM und ein Qualifikationsturnier in Rotterdam. Fast unmöglich eigentlich, aber "Herausforderungen reizen mich ja".

Noch mal der Tag vor dem Spiel, im Yeomju-Gymnasium von Gwangju. Marko Stamm humpelt vorbei. Im ersten Spiel gegen Japan hat er sich einen Bänderriss zugezogen, sie schoben ihn im Rollstuhl durchs Athletendorf, und als sie den wieder zurückgeben mussten, trugen sie ihn. Im Wasser geht es aber. Stamm, 30, war bis zuletzt der wichtigste Torschütze.

Es sind verrückte Geschichten wie diese, die den deutschen Wasserball gerade am Leben halten. Geschichten aus dem Hause Stamm.

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