Wales:Habt keine Angst!

Wales' Trainer Coleman hat viele gute Ideen, wie der Fußballzwerg Europas Elite ärgern kann - Bale spielt nun gegen Ronaldo um den Finaleinzug.

Von Claudio Catuogno, Lille

Die Zeitung L'Équipe, die ihre Leser an sieben Tagen in der Woche mit mehr als 60 Seiten Sport beglückt, hat ein besonderes Talent, Dinge zusammenzubringen, die erst auf den zweiten Blick zusammengehören. Anfang vergangener Woche, die Fußballer aus Wales hatten gerade im Pariser Prinzenpark gegen Nordirland gewonnen und sich für das Viertelfinale qualifiziert, zum Beispiel den schwedischen Stürmer Zlatan Ibrahimovic und den walisischen Stürmer Gareth Bale. Eine Karikatur zeigte Ibrahimovic, wie er - bei der EM bereits ausgeschieden - im heimischen Fernseher die Bilder sieht, auf denen Bale mit seiner Tochter sowie dem Nachwuchs der Kollegen auf dem Rasen herumtollt. Dazu die Sprechblase: "Gareth Bale spielt im Prinzenparks mit Kindern. Das erinnert mich an meine Zeit bei Paris Saint-Germain in der Ligue 1."

Die französische Ligue 1 - eine Kinderliga, das dürfte ziemlich genau Ibrahimovics Haltung zum Fußball in jenem Land beschreiben, in dem er vier Jahre lang der Zampano sein durfte, ehe es ihn weiterzog zu Manchester United. Die Waliser als Fußballgroßfamilie - das wiederum sagt eine Menge aus über die Kicker vom Westzipfel des britischen Königreichs, der bisher vor allem durch seinen Schafreichtum bekannt war sowie durch den Umstand, dass seine Fußballer seit der WM 1958 bei keinem Turnier mehr dabei waren.

Wales: Krabbelgruppe: James Chester (links) und Hal Robson-Kanu spielen mit ihren Kindern auf dem Rasen.

Krabbelgruppe: James Chester (links) und Hal Robson-Kanu spielen mit ihren Kindern auf dem Rasen.

(Foto: Martin Meissner/AP)

Am Freitagabend in Lille, nach dem 3:1 im Viertelfinale gegen Belgien, war nun wieder Krabbelgruppe angesagt. Unten auf dem Rasen schossen die Kinder die Bälle ins Tor, oben auf der Tribüne bejubelten die Fans jeden Treffer, wie sie zuvor die drei Tore von Ashley Williams (31.), Hal Robson-Kanu (55.) und Sam Vokes (86.) gefeiert hatten; die Belgier waren durch einen Weitschuss von Radja Nainggolan in Führung gegangen (13.).

Der Kick mit den Kids war nur eine von vielen Szenen, die im Gedächtnis bleiben. Ein paar andere: wie die Waliser vor dem Fanblock ein Herz bildeten statt einen Kreis. Oder ihre Jubel-Bauchplatscher auf dem vom Regen aufgeweichten Rasen. Oder auch das Spalier, das applaudierende belgische Fans gegen Mitternacht am Bahnhof Lille Flandres bildeten, als eine Gruppe walisischer Fans sich ihren Weg durch die Haupthalle bahnte. Man hat Fußballfans auch schon anders miteinander umgehen sehen. Aber womöglich ist diese Geste der Anerkennung den Belgiern auch deshalb so leicht gefallen, weil allen klar war: Wales hatte hochverdient gewonnen.

Wer nach Gründen dafür sucht, dass die Waliser jetzt tatsächlich am Mittwoch in Lyon ein Halbfinale gegen Portugal bestreiten dürfen, bei ihrer ersten EM-Teilnahme überhaupt, kommt an Bale nicht vorbei. Der Stürmer von Real Madrid ist der unumstrittene Anführer der Gruppe - aber anders als sein Klub-Kollege Cristiano Ronaldo bei Portugal, versteht sich Bale als Primus inter Pares im besten Sinne: uneitel, nahbar, inspiriert vom Spirit der Gruppe. Nun spielen die beiden 100-Millionen-Euro-Profis gegeneinander um den Einzug ins EM-Finale, wozu Bale aber nur anmerkt: "Es ist Portugal gegen Wales, nicht mehr." Ronaldo dürfte das anders sehen.

Wales: Zuvor hatten sich die Waliser mit einer Herzformation bei den Fans für die Unterstützung bedankt.

Zuvor hatten sich die Waliser mit einer Herzformation bei den Fans für die Unterstützung bedankt.

(Foto: Screenshot ZDF)

Statt sich auf Bale zu fokussieren, den besten Fußballer, der je im walisischen Trikot aufgelaufen ist, kann man sich aber auch noch mal ansehen, wie die Waliser ihre Ecken ausführten. Das war erstaunlich: Fünf Spieler stellten sich im belgischen Strafraum auf wie zu einer Polonaise mit Körperkontakt, den Bauch eng an den Rücken des Vordermanns gedrückt. Erst in dem Moment, in dem der Ball hereingebracht wurde, stoben sie nach einem festgelegten Muster auseinander, kein Belgier wusste, wen er decken sollte - die Verwirrung in der wegen Verletzungen und einer Gelbsperre ohnehin schon konfusen Verteidigung war komplett.

Ashley Williams' 1:1 fiel nach so einer Ecke. Das Tor steht sinnbildlich dafür, dass sich die Kleinen etwas einfallen lassen müssen bei so einem Turnier, wenn sie gegen die Fußballelite bestehen wollen. Der Trainer Chris Coleman, der einst als jüngster Coach in der Premier League den FC Fulham betreute und sich danach in San Sebastián, Coventry und Larisa in Griechenland weiterbildete, hat da einige Ideen.

Vor allem aber gibt Coleman den Spielern unbändige Freude mit auf den Rasen mit seinem Slogan "Habt keine Angst!" Wie sonst sollte zu erklären sein, was Hal Robson-Kanu bei seinem 2:1 gelang? Mit dem Rücken zum Tor stoppte er im Strafraum den Ball - und in dem Moment, in dem alle Belgier davonstoben, weil sie mit einem Pass rechneten, drehte sich Robson-Kanu um die eigene Achse und schoss fast schon lächerlich frei ein.

Hal Robson-Kanu ist seit Freitag arbeitslos. In der vergangenen Saison war er noch beim FC Reading in der zweiten englischen Liga beschäftigt, sein Vertrag lief am Vorabend des Viertelfinales aus. Aber nun hat er gut lachen: "Ich denke, dass ich meine Zukunft selbst in meinen Händen habe", sagte er in Lille. Einen EM-Halbfinalisten wird doch irgendwo in Europa ein Klub brauchen können?

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