Wachwechsel bei der Tour de France:Froome statt Contador, Quintana statt Schleck

Tour de France 2013 21th stage

Am Ende der Tour de France ganz oben: Froome (Mitte) mit Quintana (links) und Rodriguez.

(Foto: dpa)

Der Rad-Nachwuchs hat bei der 100. Tour de France die alte Garde abgelöst. Dass im Jahr eins nach Lance Armstrongs Doping-Enttarnung auch ein neuer Geist eingezogen ist, belegt dieser Wachwechsel aber noch nicht.

Von Andreas Burkert, Annecy

Ob man sie mitnehmen könne, fragt Carlos, sie seien Journalisten aus Kolumbien, als Beleg hält er eine schwere TV-Kamera in der Hand. Carlos und seine Partnerin leben in Paris, aber jetzt haben sie den weiten Weg nach Annecy zurückgelegt, mit dem Zug, per Anhalter und Taxi. Ihr Glück ist jetzt nur noch acht Kilometer entfernt, der Gipfel der Skistation Annecy-Semnoz, das Ziel der letzten Bergetappe der 100. Tour de France.

Die zwei sind wie viele tausend Zuschauer durch die abgesperrte Waldstraße zum Checkpoint an der D41 hochgestiefelt, wo gerade die Werbekarawane vorbeirast. Also bitte, zusteigen, und dann erzählt Carlos, dass daheim in Kolumbien die Hölle los sei wegen Nairo Quintana. Irgendwie ein paar Bilder von ihm in die Heimat überspielen, auch ohne eine Akkreditierung, das ist der Plan.

Es wird schon geklappt haben mit ein paar Aufnahmen von Nairo Alexander Quintana Rojas, dem zweiten Wunderknaben, den die Jubiläumsausgabe der Tour produziert hat neben dem Gewinner Christopher Froome. Zu übersehen war der kleine Mann aus Combita, einer Kleinstadt in der Provinz Boyacá, jedenfalls auch am Samstag nicht. Zwei Kilometer vor der Ankunft ließ der 23 Jahre alte Tour-Debütant sogar Froomes Gelbes Trikot zurück, auch der Spanier Joaquim Rodriguez konnte ihm nicht mehr folgen.

Unter tosendem Applaus fuhr Quintana herein, der sich damit nicht nur seinen ersten Etappensieg holte, sondern auch das gepunktete Bergtrikot und natürlich auch das weiße Trikot für den besten Jungprofi unter 25 Jahren.

Nachher, im Videomobil, das stets hinter dem Ziel steht und von wo die Fragerunde mit den Männern des Tages gesendet wird, hat Quintana vor Rührung geschluchzt und ein paar Tränen verdrückt. Davon habe er immer geträumt, "aber jetzt ist es wahr", er dankte seinen Eltern, Kolumbien und der ganzen Welt.

Auch der Radsport ist ihnen jetzt dankbar, dem neuen Tour-Patron Froome und Quintana, seinem mutmaßlichen Herausforderer in den kommenden Jahren. "Das ist die neue Generation, die Jugend rückt nach", sagt Renndirektor Christian Prudhomme, als er seiner roten Limousine entstiegen ist. In der Tat hat sich da bei der 100. Tour, im Jahr nach Lance Armstrongs Verbannung aus den Siegerlisten, ein Generationswechsel vollzogen - mit dem Erfolg des in Nairobi, Kenia, geborenen Briten Froome, 28, der erst seit fünf Jahren Profi ist, und mit dem Leichtgewicht Quintana (59 kg, 1,67 m).

Der zwei Mal siegreiche Spanier Alberto Contador, erstmals nach seiner Dopingsperre wieder in Frankreich dabei, büßte dagegen im Anstieg nach Semnoz seinen zweiten Platz ein. Er verlor zweieinhalb Minuten - womit sich der Etappenzweite Rodriguez noch das unterste Treppchen des Pariser Podiums sicherte. Anderen erging es noch schlimmer, der Sieger von 2010, der Luxemburger Andy Schleck, 28, belegt im Klassement Rang 20; der australische 2011-Gewinner Cadel Evans (39.) fuhr drei Wochen lang noch weiter hinten. Am Freitag in Le Grand-Bornand traf der 36-Jährige sogar im Gruppetto ein, mit mehr als 35 Minuten Verspätung. Ein Toursieger vor dem Besenwagen, das gab es wohl Jahrzehnte nicht mehr.

Pfiffe für Froome

Wofür das alles spricht, ob die Jüngeren einfach nur jünger sind, und die Tour womöglich sauberer ist, das werden in einigen Jahren die Re-Analysen der Kontroll-Labore zeigen, wenn überhaupt. Froome hatte aber schon nach seiner Eroberung der Pyrenäen und des Mont Ventoux versichert, auch langfristig gelagerte Proben und künftige Testmethoden könnten ihm nichts anhaben, in seinem Blut oder Urin seien keine unerlaubten Mittel nachzuweisen: Er sei clean. In Annecy-Semnoz, bei der traditionellen Pressekonferenz des Maillot Jaune vor den Ehrenrunden am Sonntag auf den Champs-Élysées, verzichtete aber auch er auf eine Art Regierungserklärung.

Ein intelligenter, sehr freundlicher, früherer Ökonomie-Student saß da vorn, der auch betonte, der erste Sieger nach Armstrongs Enttarnung zu sein, "das ist nicht einfach und eine ganz besondere Herausforderung". Und abermals, er finde es "zu 100 Prozent verständlich", dass Fans und Medien am Toursieger zweifeln würden, "ich akzeptiere das". Wegen der Vergangenheit, wegen den Armstrongs, von denen auch er sich betrogen fühlte.

Doch das war es dann auch schon zu diesem Thema. Keine Ankündigung, nun vielleicht doch noch die Leistungsdaten zu veröffentlichen, um in der Debatte zu seiner erstaunlichen Dominanz und der seines insgesamt doch recht starken Sky-Teams etwas entgegenzusetzen. Vielmehr pries Froome den Belgier Eddy Merckx, der in den Sechzigern und Siebzigern fünfmal die Tour gewann - und der drei Dopingaffären hatte. Froome kündigte außerdem an, seine neue Vorbildrolle natürlich nutzen zu wollen: bei der Verkehrserziehung und Förderung des Radsports in Kenia und Südafrika, wo er bis 2007 lebte.

Zwei Kletterer, die praktischerweise in der Höhe aufwuchsen, so wird also einstweilen die Legende von der Tour 2013 gehen, die zu schöne Geschichte von der Wachablösung der alten Garde. Nicht jeder wird sie vielleicht glauben, auch am Samstag haben oben in Semnoz wieder viele Menschen gebuht und gepfiffen - als sie Froome auf der Leinwand vor der 8-km-Marke mit sagenhaftem Sprint im Berg Quintana und Rodriguez nachsetzen und an ihnen vorbeifliegen sahen.

Dass er letztlich nicht wegkam, wie schon in Alpe d'Huez, wo ihn angeblich plötzlicher Hunger bremste, und er das Duo am Ende sogar ziehen ließ, erklärte er diesmal mit der Gewissheit, es geschafft zu haben: "Noch zwei Kilometer, ich habe fünf Minuten (Vorsprung), das ist es jetzt, uff, jetzt bin ich hier, es ist nichts schief gelaufen - ein überwältigendes Gefühl."

Quintana ging es nichts anders, er musste an sein Zuhause denken, es liegt in 2800 Metern Höhe, die 16 Kilometer zur Schule legte er auf einem Mountainbike zurück. Die Eltern, einfach Leute, hatten kein Geld für den Bus. 2010 gewann er die wertvolle Nachwuchs-Rundfahrt Tour de l'Avenir, der Staatspräsident empfing ihn danach; sein Triumph fand am Unabhängigkeitstag Kolumbiens statt.

Quintana lebt inzwischen in Pamplona, Spanien. Von dort ist auch der Dritte Rodriguez, er ist schon 34 und vom dubiosen russischen Katjuscha-Team. Beim Giro im Mai 2012 war er bereits Zweiter. Aber sicher, auch das muss nichts heißen.

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