Im Alter von 22 Jahren fühlte sich ein Skispringer aus Slowenien reif für eine Investition: Er kaufte sich sein erstes eigenes Fahrrad, durchquerte die Berge der Region Zasavje und entschied sich alsbald für eine Umschulung. Fortan werde er nicht mehr nur die Weite suchen, mehr noch die Höhe – und so wurde aus dem Wintersportler Primoz Roglic der Rennradfahrer Primoz Roglic. Jener Mann, dem am Sonntagabend ein Kunststück gelungen ist: 13 Jahre nach seinem Fahrradkauf hat der inzwischen 34-Jährige zum vierten Mal die spanische Vuelta gewonnen. Am Ende im Stile eines Überfliegers.
In den vergangenen drei Wochen hatte der Kapitän des deutschen Rennstalls Red Bull-Bora-Hansgrohe lange – aber zuletzt immer knapper – hinter dem Australier Ben O’Connor zurückgelegen. Am Freitag allerdings zog dann Roglic davon. Er gewann zunächst die 19. Etappe, ehe er am Samstag seinen nunmehr komfortablen Vorsprung von 2:02 Minuten auf der Königsetappe über sieben Anstiege hinauf zum Picon Blanco verteidigte. Beim finalen Einzelzeitfahren am Sonntag in Madrid ist Roglic nicht mehr zu verdrängen gewesen: Der Mann in Rot verpasste zwar seinen fünften Etappenerfolg bei dieser Vuelta, ist aber – beim Sieg des Schweizers Stefan Küng – als Tageszweiter mit letztlich 2:36 Minuten Vorsprung auf O’Connor ins Ziel gerollt, Gesamtdritter wurde der Spanier Enric Mas.
„Schon vier Siege hier, das ist verrückt“, sagte Roglic nach dem letzten Rennen in Madrid. „Ich habe so viel geopfert, genau wie meine Familie. Wir leben für das hier. Jetzt wollen wir das einfach genießen.“ Als bester Deutscher machte der 23 Jahre alte Florian Lipowitz aus Ulm von sich hören, der Gesamt-Siebter wurde und im Klassement des Weißen Trikots des besten Jungprofis Zweiter wurde: aus deutscher Sicht der größte Vuelta-Erfolg seit Jan Ullrichs Gesamtsieg 1999. „Ich war nicht mehr ganz bei 100 Prozent heute“, sagte Lipowitz bei Eurosport. „Aber über Platz sieben bin ich sehr glücklich.“
Der ehemalige Biathlet Lipowitz und der einstige Skispringer Roglic: Bei der Vuelta wirkten sie wie ein eingespieltes Duo. Noch vor zwei Monaten bei der Tour de France – ohne Lipowitz im Red Bull-Aufgebot – war Roglic auf bittere Art gescheitert: Nach einem Massensturz zur Halbzeit der Rundfahrt musste er das wichtigste Rennen des Jahres aufgeben und mitansehen, wie sein Landsmann Tadej Pogacar allen anderen davonfuhr.
Vier Vueltasiege hat Roglic nun verbucht, das war bisher nur dem Spanier Roberto Heras gelungen, wenngleich dessen Erfolge zwischen 2000 und 2005 in die Zeit der Superdoper fiel. 2024 wirft die Vuelta eher andere Fragen auf, mindestens zwei: Kann Roglic den neun Jahre jüngeren Pogacar im Herbst seiner Karriere noch einmal auf der ganz großen Bühne der Tour de France bezwingen? Und: Warum sind slowenische Radsportler eigentlich so gut?
Kleines Land, große Sportinfrastruktur
Pogacar und Roglic haben ihre Heimat oft hervorgehoben „Diese Landschaften haben meine Art zu radeln geprägt“, hat Pogacar einmal gesagt. Slowenien ist klein und vielfältig, die Wege sind kurz und die Möglichkeiten riesig. Die Natur liegt auch für Stadtbewohner meist um die Ecke: Mountainbike-Strecken, deren Trails sich für Anfänger und Profis eignen. Die Julischen Alpen mit Kranjska Gora und dem Soca-Ta oder die Koroska-Region im Nordosten. Rogla und Mariborsko Pohorje, die samt ihrem Mikroklima unter Rennradfahrern schon lange nicht mehr als Geheimtipp gelten.
Zweifellos sind Roglic und Pogacar Ausnahmekönner, aber alles hängt mit allem zusammen. Slowenien verfügt seit Längerem über eine gut ausgebaute Sportinfrastruktur, die meisten Schulturnhallen werden auch für Freizeitsport genutzt, kostenpflichtig, oft aber von den Gemeinden subventioniert. Staat, Sportverbände und Vereine arbeiten zusammen – sodass Slowenien trotz der geringen Bevölkerung von nur 2,1 Millionen Menschen Weltklassesportler hervorbringt. Etwa im Basketball, wo Luka Doncic die Dallas Mavericks unlängst ins NBA-Finale führte. Oder eben auf Rädern.