Granada ist ein beliebter Ort für sonnen- und feierwütige Erasmus-Studenten, spätestens im August allerdings müssen die wilden Feten dort vom Freien in kühle Räume umziehen. 37 Grad im Schatten werden dieser Tage in der spanischen Sierra Nevada gemessen, nur ist es gerade jetzt der Straßenradbranche zu eigen, dass die Hauptdarsteller draußen und höchsten im Windschatten des Vordermanns unterwegs sind.
Auf Fahrtwind durfte das Teilnehmerfeld der Spanien-Rundfahrt auf Etappe neun allenfalls in den Abfahrten hoffen. Meist ging es hinauf, 4370 Höhenmeter insgesamt, auf dem 178,5 Kilometer langen Teilstück von Motril, wo immerhin das Mittelmeer zur Abkühlung ufert, nach Granada, wo alles ausufert, nicht nur Studentenpartys – sondern auch Radsportgroßereignisse.
Tour de France Femmes:Vier-Sekunden-Krimi für die Ewigkeit
Im Finale nach Alpe d’Huez entscheiden vier Sekunden über den Gesamtsieg der Polin Katarzyna Niewiadoma. Das dramatische Rennen zeigt, dass der Frauenradsport seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat – und auf eine bessere Zukunft hoffen kann.
Diese neunte Etappe bündelte, worum es bei der Vuelta geht. Die dritte Grand Tour des Radsportkalenders nach dem Giro d’Italia und der Tour de France ist zuvorderst darauf ausgelegt, die Profis zu quälen. 57 500 Höhenmeter werden jene in knapp zwei Wochen bewältigt haben, denen es gelingt, den Zielstrich von Madrid zu erreichen – neun Bergankünfte sind insgesamt zu erklimmen. Zahlen, die sich lesen wie ein Ausreißversuch. Als würde die Vuelta ersinnen, aus dem Schatten von Tour und Giro zu treten.
Bemessen an den Höhenmetern, sind die diesjährigen Grand Tours in Italien (44 650) und Frankreich (52 000) einfacher gewesen. Bei Tour waren es zuletzt statt neun Bergankünften deren vier, beim Giro sechs. Lediglich im Ranking der Distanzen ist die Tour de France, die als schwierigstes und wichtigstes Radrennen der Welt gilt, ganz vorn zu finden. 3492 Kilometer standen zwischen dem Start in Florenz und dem Ziel in Nizza bis Ende Juli an, beim Giro von Venaria Reale bis Rom waren 3317,2 Kilometer zu strampeln, die vor zehn Tagen in Lissabon gestartete Vuelta kommt dieses Jahr auf 3304 Kilometer.
Der ehemalige Biathlet Florian Lipowitz aus Ulm fährt im weißen Trikot für den besten Jungprofi
Man könnte diese Schleife zwischen Portugal und Spanien als die größte Herausforderung erachten – auch wenn es letztlich natürlich die Fahrer sind, die eine Rundfahrt prägen. Die vermeintlich Größten des Sports, sie fehlen jedenfalls in Spanien.
Der Tour-Zweite Jonas Vingegaard entschied sich dafür, anstatt der Vuelta die sieben Etappen kurze Polen-Rundfahrt zu fahren (und er gewann sie). Und dass der Slowene Tadej Pogacar auf die Vuelta verzichtet, war auch wenig überraschend, nachdem ihm zuvor das Kunststück des Radsport-Doubles gelungen war: die Gesamtsiege beim Giro und bei der Tour in einem Jahr (was zuletzt Marco Pantani 1998 geschafft hatte). Die gute Nachricht ist also, dass auch die vermeintliche Maschine Pogacar menschliche Bedürfnisse wie Ruhephasen hat. So wird der Grand Slam, oder besser das Triple, in der Geschichte des Radsports vorerst unerreicht bleiben. Und es ergeben sich Chancen für andere.
Einer der Vuelta-Teilnehmer heißt Florian Lipowitz, stammt aus Ulm und war einst als Biathlet mit Gewehr auf Langlaufskiern unterwegs. Inzwischen hat er umgesattelt, der 23-Jährige vom deutschen Team Red-Bull-Bora-Hansgrohe kam in Granada – vor dem Ruhetag am Montag – als Tagesfünfter ins Ziel und eroberte das weiße Trikot des besten Jungprofis. Lipowitz lag nach der zehnten Etappe am Dienstag in der Gesamtwertung auf Rang sechs und mit 5:29 Minuten Rückstand auf den Führenden nur 57 Sekunden hinter Podestplatz drei (Richard Carapaz aus Ecuador). Gut eineinhalb Minuten vor ihm rangiert sein Teamkapitän Primoz Roglic aus Slowenien, 3:53 Minuten hinter dem Mann im Roten Trikot. Das trägt seit der sechsten Etappe der Australier Ben O’Connor. Der 28-Jährige, der die Hitze von Down Under gewohnt sein dürfte, ließ unlängst wissen, dass auch ihm die grausame Hitze zu schaffen mache, „cruel“ würde man bei ihm daheim sagen. Doch er leistet bei dieser Cruelta bisher am erfolgreichsten Gegenwehr.
Rein sportlich wird es in den noch anstehenden elf Etappen um die Frage gehen, ob der zum Edelhelfer beförderte Lipowitz und sein zweitplatzierter Chef Roglic der ambitioniertesten deutschen Equipe im Weltradsport zu Ruhm und Ehre verhelfen – also zu einem Sieg bei einer Grand Tour. Nahe dran war die Auswahl von Teamchef Ralph Denk in diesem Jahr wenn dann nur auf dem Papier. Beim Giro d’Italia kam der Kolumbianer Dani Martinez für Bora-Hansgrohe (seinerzeit noch ohne Red Bull als Sponsor) auf Gesamtrang zwei ins Ziel – mit fast zehn Minuten Rückstand auf Sieger Pogacar, mehr als eine Welt dahinter also. Lipowitz, der bei seiner Grand-Tour-Premiere anfangs stabil unter den besten Fahrern zu finden war, erkrankte früh und stieg nach der fünften Etappe aus. Bei der Tour de France verabschiedete sich dann der Red-Bull-Kapitän höchstpersönlich – Roglic musste nach einem Massensturz im Finale der 12. Etappe aufgeben.
„Ich habe echt gelitten, es war echt hart“, sagt Primoz Roglic nach seinem Etappensieg
Nun also setzt Red Bull, wie passend, alles auf Rot. Zumal der einstige Skispringer Roglic Hinweise hinterließ, dass er das Tour-Aus relativ gut verkraftet hat. Am Wochenende von Ubeda ins Bergstädtchen Cazorla setzte er 2,5 Kilometer vor dem Ziel zu einer Aufholjagd an, ehe er in der andalusische Bullenhitze dem Spanier Enric Mas zum Etappensieg davon sprintete – und so den Rückstand auf O'Connor um fast eine Minute verkürzte. „Ich habe echt gelitten, es war echt hart, aber ich habe die Gelegenheit ergriffen“, sagte Roglic im Ziel. „Das war für mich der perfekte Anstieg am Ende. Ich hatte aber auch Glück“, erklärte er.
Sehr viele Berge stehen noch zwischen Lipowitz, Roglic und Madrid. Sehr viel Schweiß wird noch auf die spanischen Straßen tropfen. Und vielleicht werden sich der einstige Biathlet und der frühere Skispringer manchmal denken: Wären wir doch beim Wintersport geblieben.