Stiere reagieren auf die Farbe Rot aggressiv, so lautet zumindest eine Mär aus der spanischen Stierkampftradition – die für Tierschützer bis heute gewissermaßen ein rotes Tuch ist. Weniger verfänglich ist da der Radsport, in dem die Farbe Rot derzeit von Galizien bis Andalusien gleichwohl zentral ist, auch wenn Stiere in dieser Hinsicht nie eine Rolle gespielt haben. Bis zum Jahr 2024, in dem sich ein – wenn man so will – moderner Stierkampf anbahnt.
Bei der Vuelta, der Spanien-Rundfahrt, verdichten sich mit zunehmender Dauer Hinweise, wonach ein Mann das rote Trikot des Gesamtsiegers gewinnen könnte, der tatsächlich Stiere im Wappen durch die Gegend fährt, rote Bullen, um genau zu sein. Der slowenische Rennradprofi Primoz Roglic hat nicht nur einen Namen, der verdächtig nach rotem Primus klingt, er schickt sich auch an, erneut die Vuelta zu gewinnen. Der 34-Jährige würde seinem deutschen Team Red Bull-Bora-Hansgrohe den ersten Gesamtsieg bei einer der Grand Tours bescheren. Und das, nachdem Roglic kürzlich bei der Tour de France noch an diesem Vorhaben gescheitert war.
Die Vuelta läuft auf einen zweiteiligen Höhepunkt zu: Am Samstag ist für die verbliebenen knapp 140 Fahrer eine knüppelharte Bergetappe zu bewältigen, ehe sehr wahrscheinlich erst am Sonntag im finalen Einzelzeitfahren nach Madrid die Entscheidung fallen wird, wer die Vuelta gewinnt. Roglic, der im Gesamtklassement auf Rang zwei liegt? Oder doch Ben O’Connor, jener Mann, der das rote Trikot seit zwei Wochen trägt? Der zwischenzeitlich komfortabel wirkende Vorsprung des Australiers schmolz in der spanischen Hitze zuletzt allerdings dahin. Aus vier Minuten wurden fünf Sekunden. Zahlen für einen Radsportkrimi.
O’Connor zählt zu den Besten der Szene, der 28-Jährige hat bei allen drei Grand Tours (Frankreich, Spanien und Italien) Etappen gewonnen, er gilt als versierter Bergfahrer, was er in den wüstenähnlichen Anstiegen der Vuelta nachwies. „O’Connor hält durch“, vermeldete die spanische Zeitung El Pais, als er am Donnerstagabend seinen Vorsprung auf die Verfolger Enric Mas Nicolau aus Spanien (1:25 Minuten), Richard Carapaz aus Ecuador (1:46 Minuten) und Roglic verteidigte. Doch, so ließ die Zeitung weiter wissen, „Roglic, Mas und Carapaz zücken ihre Reißzähne“. Oder wie sie im Rennstall der roten Bullen sagen würden: Sie senken die Hörner.
Der Edelhelfer aus Ulm: Florian Lipowitz liegt auf Rang acht
Roglic könnte am Sonntag mit einem besonderen Vermerk in die Geschichte der Vuelta eingehen. Sein vierter Gesamtsieg im Maillot Rojo, im roten Trikot, würde ihn „bei seinem Lieblingsrennen auf den höchsten Rang der spanischen Runde befördern“, wie die Zeitung AS unlängst schrieb. In der seit 1935 ausgetragenen Vuelta gelang das bisher nur einem: Der Spanier Roberto Heras brachte das Kunststück zwischen den Jahren 2000 und 2005 zustande, wenngleich seine Erfolge in die Zeit der Superdoper fiel, was auch bei Heras einen Beigeschmack hinterließ. Nach einem positiven Dopingbefund während der Vuelta 2005 war ihm sein Sieg zunächst nachträglich aberkannt worden, ehe er ihn sich vor Gericht sechs Jahre später zurückerstritt. Roglic gelang zwischen 2019 und 2021 das Vuelta-Triple, seinerzeit für das niederländische Team Visma – und ohne Dopingvorwürfe.
Der Slowene, einst vom Wintersportler zum Straßenradfahrer umgeschult, hielt sich mit Äußerungen zuletzt zurück. Dass er der Favorit auf das rote Jersey ist, dürfte ihm klar sein. Er gilt als vielleicht versiertester Zeitfahrer im Feld, könnte also Vorteile im Finale am Sonntag haben. Und tags zuvor im Gebirge weiß er seinen Red-Bull-Edelhelfer Florian Lipowitz aus Ulm an seinem Vorderrad, der ihn in notfalls eigenhändig den Berg hinaufzieht. Der 23 Jahre alte Lipowitz, Achter im Gesamtklassement, könnte sich seinerseits noch das weiße Trikot des besten Jungprofis sichern – auf den jungen ehemaligen Biathleten wird die Radbranche hierzulande in Zukunft eventuell genauer achten als bisher. Vorerst aber lautet Lipowitz’ Auftrag: Den Chef zum roten Trikot fahren – dem dritten slowenischen Grand-Tours-Sieg in einer Saison (nach Tadej Pogacars Double). Auch das gab es noch nie.
Radsport ist unvorhersehbar, es gibt keine Garantien, auch weil das Risiko stets mit im Sattel sitzt. Sehr schmerzhaft hat das der belgische Mitfavorit Wout van Aert am Mittwoch erlebt, als er zum zweiten Mal im Kalenderjahr schwer stürzte; er musste die Vuelta für sich beenden und verpasst auch die restliche Saison. Roglic kennt solche Rückschläge. Für ihn war vor zwei Monaten zur Halbzeit der Tour de France nach einem schweren Massensturz Schluss. Womöglich ist genau diese widerwärtige und wiederkehrende Begleiterscheinung des Radrennsports die größte Gefahr für ihn und seine Ambitionen. Denn ausgerechnet an diesem Samstag wird es am gefährlichsten.
Beim vorletzten, 172 Kilometer langen Teilstück steht der wohl wildeste Schlagabtausch im Hochgebirge an. Die Organisatoren bündeln noch einmal sämtliche Gemeinheiten: Gleich sieben kategorisierte Anstiege sind im Tagesprofil, davon drei der höchsten Kategorie – und, dem Gesetz der Physik zufolge, garniert mit sechs Abfahrten samt erheblicher Sturzgefahr. Am Ende steht dann für die Vuelta-Veteranen die Bergankunft am berüchtigten Picón Blanco an, mit 7,9 Kilometern Länge, im Schnitt 9,1 Prozent Steigung – und 22 Grad Celsius. Also zumindest ohne Bullenhitze.