Martina Voss-Tecklenburg:"Wir möchten nicht länger belächelt werden"

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"Es gibt ganz viele intelligente junge Leute, die Fußball spielen und die schon etwas zu sagen hätten", sagt Martina Voss-Tecklenburg.

(Foto: Simon Hastegard/imago)

Die Bundestrainerin spricht über Ungerechtigkeiten zwischen Frauen und Männern und die Frage, was im Fußball wichtiger ist: gleicher Lohn oder gleich viel Respekt.

Interview von Peter M. Birrer und David Wiederkehr

Der Bundestrainerin der Fußballerinnen, Martina Voss-Tecklenburg, wird ein Bild von Megan Rapinoe gezeigt. Die US-amerikanische Nationalspielerin ist in ihrer, seit der Weltmeisterschaft 2019 berühmten Pose zu sehen: Die Arme nach oben und zur Seite gestreckt, selbstsicher lächelnd.

Was löst dieses Bild von Megan Rapinoe in Ihnen aus?

Die Haltung der US-Spielerinnen während der WM: Zufriedenheit, Glück, Stolz. Sie gingen immer auf den Platz mit der Einstellung: Uns kann niemand bezwingen. Und trotzdem ist es sympathisch. Man könnte eine solche Pose auch anders interpretieren, im Sinne von: Wir sind die Größten, die Mächtigsten, was wollt ihr? Aber bei ihr ist es genau anders. Megan Rapinoe hat eine fantastische WM gespielt, ist die Beste überhaupt, die ich bisher erlebt habe.

Ist sie für Sie eine Heldin?

Nicht für mich persönlich, aber für den Frauenfußball. Weil sie diese sportlichen Qualitäten hat. Und weil sie eben zeigt, dass es nicht verkehrt ist, eine klare Haltung zu gesellschaftlichen Themen zu haben und dazu zu stehen.

Sie prangerte während der WM in Frankreich Rassismus und Sexismus an - und in dem Zusammenhang auch US-Präsident Donald Trump.

Megan nutzte die Plattform WM, um Botschaften in die Welt zu senden. Im Wissen, dass es nicht immer angenehm ist, weil sie wegen ihrer Meinung auch angefeindet wird. Aber es ist ein Statement, das sie abgeben darf. Und mit dem wir unseren jungen Spielerinnen aufzeigen: Hey, da ist eine Frau, die sich traut, etwas zu sagen.

Ist es so außergewöhnlich, seine Meinung kundzutun?

Im Sport ist es relativ schwierig, zum einen Leistung zu zeigen und zum anderen den Mut zu besitzen, eine Haltung zu eben solchen Themen zu äußern.

Warum?

Weil man sich angreifbar macht, wenn die sportlichen Leistungen nicht mehr gut sind. Ich glaube, dass sich deswegen viele zurückhalten. Oder sich erst nach ihrer Karriere positionieren. Der Grat ist schmal. Man muss sehr gut überlegen: Was will ich tun, wozu welche Kommentare abgeben? Durch die sozialen Medien wird alles sofort ungefiltert verbreitet und bewertet. Megan war sich bewusst, was passiert, wenn es schiefgeht. Aber sie wäre auch in der Lage gewesen, das zu ertragen.

Warum gibt es nicht mehr Rapinoes, warum nicht mehr Männer, die sich so etwas zutrauen?

Das können nur die tun, die diese Haltung auch wirklich leben und starke Persönlichkeiten sind.

Oder sie werden zurückgepfiffen, wenn sie es doch tun.

Das sind unbegründete Ängste der Klubs und Berater. Es gibt ganz viele intelligente junge Leute, die Fußball spielen und die schon etwas zu sagen hätten. Aber da komme ich wieder auf den schmalen Grat zurück.

Ist die Gefahr wirklich da, den Fokus zu verlieren, wenn man sich mit gesellschaftlichen Themen befasst?

Das glaube ich nicht. Da wird mir der Fußball wichtiger gemacht als dass er ist. Wenn man als Sportler ein solches Thema anspricht, sollte es aber authentisch rüberkommen. Dass also keine Maschinerie, keine Werbekampagne dahintersteckt, die unecht ist, von anderen gewollt. Junge Menschen sind nicht davor geschützt, eingespannt zu werden. Und sie können sich teilweise nicht mehr wehren, weil der Apparat und die Bewegung immer größer werden.

Bei Rapinoe glauben Sie nicht, dass sie Teil einer Maschinerie ist?

Nein. Sie wird nur das tun, was sie tun will. Aber klar: Sie profitiert vom Bekanntheitsgrad. Wenn sie an der WM nicht so überragend gespielt hätte, wäre sie auch nicht in dem Maß gehört worden. Sie lieferte immer wieder.

Äußern Sie Ihre politische Meinung?

Wenn überhaupt, dann sehr überlegt. Man muss nicht immer alles über die Öffentlichkeit platzieren.

Dürfen Ihre Spielerinnen Stellung zu Themen beziehen, die über den Fußball hinausgehen?

Wir machen ihnen keine Vorschriften, und ich finde diese Freiheit wichtig. Sport und Politik lassen sich nicht immer trennen: Wo sollen Olympische Spiele stattfinden? Wo eine WM oder EM? Beim Deutschen Fußball-Bund haben wir einen klaren Wertekodex und einen sozialen Auftrag. Unser neuer Präsident Fritz Keller hat erklärt, dass kein deutsches Nationalteam mehr in einem Land antreten wird, in dem Frauen nicht ins Stadion dürfen.

Katar und die WM 2022 hat er danach allerdings ausgenommen.

In Katar dürfen Frauen ja ins Stadion.

Eingeschränkt sind ihre Rechte in dem Land trotzdem.

Es ist schwierig, gleich alles umzusetzen. Im Extremfall würde es ja Boykott bedeuten. Zudem kann man die sportliche Seite nicht einfach weglassen. Trotzdem ist es wichtig, Diskussionen anzuschieben und Positionen zu beziehen, wie es Fritz Keller gemacht hat. Oder ganz klar zu sagen: Wir treten zwar an, aber was in diesem Land passiert, verurteilen wir. Das ist auch eine Haltung. Und die muss man zeigen.

Haltung zeigen ist im Sport selten.

Ist das nicht ein Grundproblem unserer Gesellschaft? Oft werden doch Menschen angegriffen, wenn sie Haltung zeigen. Es existiert schon ein Hang zum Egoismus. Gerade junge Menschen werden ausgeschlossen, wenn sie anders sind oder denken. Und als Außenseiter wirst du oft gemobbt. Darum erfordert es viel Mut und einen starken Charakter, nicht gleichförmig zu sein.

Sie haben die sozialen Medien erwähnt. Sind sie ein Problem?

Sie können sogar ein großes sein. Als ich noch in der Schweiz arbeitete, wollte eine Spielerin nach der EM 2017 aufhören, weil sie in den sozialen Medien negative Kommentare über sich las.

Wer war das?

Das verrate ich nicht.

Wie haben Sie reagiert?

Ich sagte ihr: Leute, die sich anonym über dich auslassen, dürfen niemals der Maßstab sein. Du musst auf die Leute hören, die wirklich beurteilen können, was du leistest. Also: die Trainer, Menschen aus dem Umfeld.

Trotzdem scheinen Sportlerinnen und Sportler solche Kommentare lesen zu wollen.

Genau. Also dürfen wir nicht heuchlerisch sein: Wenn es positiv ist, man im Netz gefeiert wird und mit der Leistung Geld verdient, liest sich das ja wunderschön. Aber das musst du relativieren können. Auch im Sport hat das Leben nicht nur Sonnenseiten.

Wie soll ein 18-jähriger Mensch das einordnen können?

Es schadet nicht, wenn er sich mal eine blutige Nase holt. Als Trainerin ist es aber meine Aufgabe, das mit der Spielerin zu thematisieren und sie zu sensibilisieren. Und zu versuchen, sie zu verstehen, auch die Mechanismen. Wenn ich alles nur kritisch sähe, würden wir nie eine gemeinsame Ebene finden.

In gewissen Sportarten ist die Diskrepanz zwischen Mann und Frau sehr groß - sei es in Sachen Lohn oder mediale Aufmerksamkeit. Welche Diskrepanz missfällt Ihnen besonders?

Mir missfällt es dort, wo gleiche Voraussetzungen herrschen, gleiche Arbeit geleistet wird, aber ungleich bezahlt wird. Im Tennis hat man das hinbekommen.

Bei Grand Slams braucht eine Frau nicht drei Sätze, um zu gewinnen.

Das nicht. Aber das ist auch okay, weil es genetische Unterschiede gibt. Frauen laufen eine Sekunde langsamer über 100 Meter, springen einige Zentimeter weniger hoch. Wir sind, was die körperlichen Voraussetzungen angeht, halt ein bisschen anders.

Trotzdem ist es für Sie angebracht, Männer und Frauen gleich zu bezahlen? Stichwort Equal Pay.

Im Frauenfußball ist das nur begrenzt möglich, in gewissen Nationen. Wenn in Australien die Frauen gleich viel Geld wollen wie die Männer, hat das damit zu tun, dass sie auch ähnlich viel Geld generieren. In Deutschland dagegen ist Equal Pay nicht möglich, weil im Männerfußball viel mehr Geld eingenommen wird. Das sind die Realitäten, und die müssen wir anerkennen. Mir ist viel wichtiger, dass die Frauen dieselben Möglichkeiten bekommen und die gleiche Unterstützung - vor allem aber denselben Respekt. Wir möchten nicht länger belächelt werden, sondern unsere Leistungen respektiert wissen.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn die Norwegerin Ada Hegerberg nach ihrer Wahl zu Europas Fußballerin gefragt wird, ob sie mit dem Hintern wackeln könne?

Wurde Messi auch gefragt?

Nicht dass wir wüssten.

Ich bin jemand, der versucht, die Leute zu überzeugen, mitzunehmen und aufzuklären. Dieser Begriff Vorurteil steht ja allein für sich. Ich urteile, bevor ich etwas weiß. Dagegen setze ich mich ein und wehre mich. Respekt und Akzeptanz sind etwas Wichtiges.

Ermüdet Sie das nicht?

Nein.

Eine Frage wie die an Ada Hegerberg ist doch einfach dumm.

Natürlich. Und da gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder stelle ich das Gegenüber bloß und entgegne: Was stellst du mir für eine dumme Frage? Oder ich nehme das mit Humor und antworte intelligent, sodass trotzdem alle merken, was für eine doofe Frage das war.

Groß zu ärgern scheint Sie der Vorfall nicht.

Wenn ich mich über jeden dummen Menschen ärgern würde, hätte ich viel zu tun.

Trotzdem stellt sich die Grundsatzfrage: Wie lassen sich solche Sprüche, solche Vorurteile ausrotten?

Das lassen sie sich nicht, und das ist auch nicht unser Anspruch. Wir müssen uns aber überlegen: Wie gehen wir damit um? Was entgegnen wir? Manchmal merkst du, dass es sich nicht lohnt, Energie zu verschwenden. Hartnäckiger bin ich, wenn es verletzend wird.

Was tun Sie dann?

Da habe ich die Verantwortung, nicht wegzugucken. Ich finde, weggucken ist einfach blöd. Wenn jemand angegriffen wird, zum Beispiel in der U-Bahn, ich könnte nicht wegschauen. Ich kann das jetzt leicht sagen, ja, aber ich würde ganz sicher abwägen: Wie kann ich der angegriffenen Person helfen? So bin ich erzogen worden.

Ada Hegerberg war es auch, die auf die WM 2019 verzichtete, weil sie damit aufzeigen wollte, dass im norwegischen Fußballverband Männer und Frauen nicht gleich bezahlt werden. Wenn eine deutsche Spielerin dasselbe tun würde: Hätten Sie Verständnis dafür?

Ich würde ihr Anliegen respektieren, es aber nicht sofort hinnehmen. Dazu bin ich zu sehr Teamplayer, und mit einer Absage schadest du ja einer ganzen Mannschaft. Ich würde im Gespräch herauszufinden versuchen, wie die Spielerin mitkommen kann, ohne ihre Haltung zu verlieren. Gerade wenn es sich um eine Spitzenspielerin wie Ada Hegerberg handelt, die in jedem Team willkommen wäre. Es gibt immer zwei Seiten einer Entscheidung, und sie sollte sich beide anschauen.

Wie schlecht sind Fußballerinnen eigentlich wirklich bezahlt?

Das muss man differenziert anschauen und sich fragen: Wo beginnt die gute Bezahlung? Und wo hört sie auf? Ich finde, dass in gewissen Sportarten viel zu viel Geld im Umlauf ist und bezahlt wird. Im Männerfußball sicher. Auch im Tennis, in der Formel 1. Dafür fehlt es andernorts. Unsere Frauen trainieren oder spielen nicht weniger und bringen auch nicht weniger Leistung. Aber sie generieren über die Zuschauer, das Merchandising, Marketing, Werbung und das Fernsehen einfach nicht so viel.

Konkret: Was verdient eine Fußballerin in der deutschen Bundesliga?

Die Spanne ist breit. Spitzenlöhne im hohen vierstelligen Bereich bekommen aber nur die allerbesten.

Wer zahlt am meisten?

Entscheidend ist für mich, wer am meisten für die Frauen tut und wie stark das Bekenntnis zum Frauenfussball gelebt wird. Es gibt Großklubs, da gibt es keine Veranstaltung ohne die Frauen und keine Unterschiede bei den Trainingsbedingungen. Das ist stark. Trotzdem bekommen die Spielerinnen natürlich nicht denselben Lohn wie die Spieler.

Wird der Tag kommen, an dem Frauen gleich viel verdienen?

In Europa? Ausgeschlossen. In den USA ist das anders, da haben die Spielerinnen Millionenverträge, aber sie sind ja auch erfolgreicher als die Männer - und die Sportart hat in den USA nun einmal nicht dieselbe Bedeutung. In Europa ist Fußball die Sportart Nummer eins.

Deshalb wird hier ständig Frauenfußball mit Männerfußball verglichen.

Das stört mich sehr. Ich möchte auch von der Sprachregelung wegkommen, von Frauenfußball zu reden. Nachdem wir im November vor 80 000 Zuschauern im Wembley gegen England spielten, hieß es: Das war Werbung für den Frauenfußball. Nein! Es war Werbung für den Fußball! Ich habe noch nie jemanden gehört, der sagte: Das war Werbung für den Männerfußball. Wir machen uns selber klein. Das ist nicht okay.

Wie soll man sonst differenzieren?

Schon klar, ich verstehe das ja. Und ich benutze das Wort selbst auch. Aber die Sportart ist dieselbe. Es ist das gleiche Spiel, und es wird überall auf der Welt gleich ausgeübt.

Keiner käme auf die Idee, skifahrende Männer und skifahrende Frauen miteinander zu vergleichen. Tun wir das beim Fußball, weil er so stark verwurzelt ist in unserer Kultur?

Ja. Und weil ihn lange, lange, lange nur Männer gespielt haben. Lange war es Frauen ja sogar verboten, Fußball zu spielen. 2020 feiern wir in Deutschland 50 Jahre Frauenfußball - aber wir haben weit über 100 Jahre Männerfußball.

Wer war Ihr Idol?

Steffi Graf. Und ich mochte Boris Becker. Bei beiden hatte ich das Gefühl, dass sie zu jeder Zeit hundert Prozent geben. Ich habe auch großen Respekt vor paralympischen Sportlern, die nach Schicksalsschlägen wieder aufstehen und Grenzen überwinden. Das sind für mich die wahren Helden. Ich orientiere mich gerne an Menschen, die leidenschaftlich leben und lieben, was sie tun.

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