Vor dem Viertelfinale gegen Frankreich:DFB-Elf in der Imagefalle

Vor dem Viertelfinale gegen Frankreich: "Ich will nicht Weltmeister werden und mich danach hinstellen müssen und sagen: Sorry, dass wir das Finale nur mit einem Tor Unterschied gewonnen haben" - Thomas Müller

"Ich will nicht Weltmeister werden und mich danach hinstellen müssen und sagen: Sorry, dass wir das Finale nur mit einem Tor Unterschied gewonnen haben" - Thomas Müller

(Foto: AP)

Sogar Thomas Müller vergeht langsam die gute Laune. Die deutschen Nationalspieler haben das Gefühl, es niemandem mehr recht machen zu können - egal wie sie spielen. Vor allem Bundestrainer Joachim Löw muss vor dem Viertelfinale gegen Frankreich viel Kritik einstecken. Zu Unrecht.

Von Christof Kneer, Santo Andre

Berti Vogts hatte wieder mal eine Idee, aber er kam nicht durch damit. Ob man nicht ein Feldspielertrikot für Oliver Kahn, den dritten Torwart, besorgen könne, fragte Vogts den damaligen Pressechef Wolfgang Niersbach; Vogts wollte ein Zeichen setzen damals, kurz vor dem Ende der EM 1996. Er wollte ein Feldspielertrikot von Kahn zur Pressekonferenz mitnehmen und damit ganz Europa zeigen, welche Sorgen er hat: gesperrte Spieler, verletzte Spieler und ein EM-Endspiel vor der Brust. Und er wollte Druck auf den europäischen Fußballverband Uefa ausüben: Vielleicht würde der Verband die Sperren fürs Endspiel ja zurücknehmen?

Lass' sein, Berti, bringt nix, hat Niersbach ihm geantwortet. Die Gesperrten blieben gesperrt, die Verletzten verletzt, und Vogts' Elf wurde Europameister. Torschütze im Finale: nicht Oliver Kahn, sondern Oliver Bierhoff.

Bierhoff weiß, wie das geht: ein widersprüchliches Turnier spielen und sich am Ende als Sieger feiern lassen. "Die Mechanismen sind bei Turnieren immer die gleichen", sagt er, "gute Spiele werden überbewertet, nach weniger guten Spielen bricht gleich Panik aus. Nach dem 4:0 gegen Portugal waren wir der Titelfavorit, nach dem Algerien-Spiel heißt es: Wie wollen die Frankreich schlagen?"

Bierhoff sitzt am Pool des Pressehotels, er ist nach Per Mertesackers lustig entgleistem ZDF-Interview als Regierungssprecher zu einer eigens anberaumten kleinen Runde erschienen, und er kann es sich leisten, den lässigen Turnier-Routinier zu geben. Aber natürlich weiß der Teammanager, dass die normalen Mechanismen diesmal von einer unnormalen Stimmungslage grundiert sind. "Die Mannschaft ist eigentlich relativ ruhig", sagt Bierhoff zwar, "sie weiß, was bisher gut und was schlecht war." Aber wer das Mertesacker-Interview zum Maßstab nimmt, der ahnt, dass "relativ ruhig" eine freundliche Formulierung für "genervt" ist.

"Wir spielen wirklich nicht für die Überschriften"

"Ich will nicht Weltmeister werden und mich danach hinstellen müssen und sagen: Sorry, dass wir das Finale nur mit einem Tor Unterschied gewonnen haben", hat Thomas Müller vor dem Abflug zum Viertelfinale als Botschaft hinterlassen. Müller ist ein munterer Kerl, der jeden Witz nimmt, der nicht bei drei im Pool ist. Aber mit diesem Satz war es ihm ernst.

Das Gefühl, es niemandem recht machen zu können

Es sei "ein deutsches Phänomen", sagt der Turnier-Routinier Bierhoff, "dass manchmal eine gewisse Grundfreude fehlt". Aber hinter diesem Phänomen steckt ein anderes Phänomen, es ist eines, das diesem Team und ihrem Trainer zunehmend zu schaffen macht. "Wenn wir wie die Ballerinas spielen, heißt es: Denen fehlen die Typen", sagt Müller, "und wenn wir mit viel Willen gewinnen, hat man auch das Gefühl, dass man sich entschuldigen muss." Das Algerien-Spiel sei "dargestellt worden, als ob das der Untergang des Weltfußballs ist", so Müller, "wenn die Italiener so gewinnen, heißt es: Clevere Hunde, die haben den Gegner schön zappeln lassen."

Die WM erlebt gerade einen Viertelfinalisten, der das Gefühl hat, es niemandem mehr recht machen zu können. "Wir spielen wirklich nicht für die Überschriften", sagt Müller, "aber man hat uns so lange vorgeworfen, dass wir die engen Spiele nicht gewinnen, und jetzt heißt es auf einmal, dass wir nicht mehr schön spielen." Es ist nicht mehr zu überhören: Mannschaft und Trainer sitzen in der Imagefalle.

Das Tückische an der Debatte ist, dass beide Parteien - hier Spieler/Verantwortliche, dort Öffentlichkeit/Medien - für sich nachvollziehbare Argumente reklamieren. Spieler und Verantwortliche halten sich durchaus mit Recht für die konstanteste Elf der Welt, "es ist generell erst mal beeindruckend, dass wir in den letzten zehn Jahren immer unter den letzten Vier waren", sagt Bierhoff und verweist auf Holländer, Italiener und jetzt die Spanier, "die immer wieder mal früh ausscheiden". Die Öffentlichkeit schätzt eine Platzierung unter den ersten Vier aber zunehmend weniger. Sie will endlich eine unter den ersten Eins.

Komprimiert auf wenige Turnierwochen zeigt sich deutlich wie nie zuvor, was das vom Bundestrainer unglücklich gecoachte 1:2 im EM-Halbfinale gegen Italien angerichtet hat - in Kombination mit dem Spiel gegen Schweden, in dem es der Bundestrainer geschehen ließ, dass es nach 4:0-Führung 4:1, dann 4:2, 4:3, und schließlich 4:4 stand. In diesen Monaten haben die Leute das Urvertrauen in Team und Trainer so sehr verloren, dass sie Joachim Löw jetzt auch Unrecht tun. Stellt er vier Innenverteidiger auf, wirft man ihm eine Abkehr von seinem auf Ästhetik berechneten Stil vor. Stellt er sie nicht mehr auf, wirft man ihm eine Abkehr von der Abkehr vor. Stellt er Philipp Lahm ins Mittelfeld, nennt man ihn stur. Stellt er Lahm wieder nach hinten rechts, heißt es: Umfaller!

In diesem Klima zieht die Elf in dieses Spiel, in dem es - wieder einmal - um die Zukunft des Bundestrainers geht. Ein Aus im Viertelfinale würde sich der Heimat nicht mehr verkaufen lassen, aber Thomas Müller findet diese Ausgangsposition gar nicht so schlecht. "Wenn wir unter Druck sind, sind wir immer am besten", sagt er. Kein Witz. Er meint das wieder ernst.

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