Vor Champions-League-Spiel:Milan fliegt nicht mehr

Für den AC Mailand geht es in München schon um die Bilanz der gesamten Saison und damit um das Amt von Trainer Carlo Ancelotti.

Birgit Schönau

Bewegung im Unterholz. Hindernislaufen im Schlamm. Schweres Gepäck. Sogar in die Luft sollen Gattuso, Schewtschenko und Co. geschossen haben, mit Spielzeuggewehren natürlich. Nicht auf einer Karnevalsparty, sondern im Trainingszentrum Milanello, unter Anleitung des immer so friedlich wirkenden Carlo Ancelotti und des gewieften Klubpsychologen Bruno De Michelis.

Ob es nun wirklich "Kriegsspiele" waren, wie die Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera behauptete, oder nur "Team Building", wie die Gazzetta dello Sport eilfertig beschwichtigte - jedenfalls hat sich der AC Mailand auf den Ernstfall vorbereitet. Der Ernstfall tritt ein, wenn am heutigen Dienstagabend die Champions League-Partie gegen den FC Bayern angepfiffen wird (20.45 Uhr/Sat1, Premiere), denn für Milan geht es um das Ziel der Saison. Und für Ancelotti wie so oft ums Ganze - seinen Arbeitsplatz.

Aus dem Wettbewerb um den Italien-Pokal flog Milan nach einer blamablen Niederlage gegen Palermo vorzeitig heraus. Die Meisterschaft wurde ebenfalls ganz offiziell fahren gelassen, zu groß erscheint der Abstand von zehn Punkten auf Tabellenführer Juventus Turin.

Zu Hause konzentriert sich Milan also auf die Verteidigung von Platz zwei, bitter genug für einen Klub, dessen Besitzer Silvio Berlusconi einst die Losung ausgab: "Ich habe mich als Unternehmer so sehr daran gewöhnt, immer der Erste zu sein, dass ich es entsetzlich fände, ausgerechnet im Fußball nur Zweiter zu werden." Das war vor genau 20 Jahren, als der damalige Mailänder Baulöwe, der inzwischen auch erster Mann der italienischen Regierung ist (zumindest bis zu den Wahlen am 9.April), den Klub übernahm.

Erster kann Milan in diesem Jahr nur noch in der Champions League werden. Doch auch auf der europäischen Bühne traten die Mailänder bislang nicht so selbstbewusst auf, wie man das von Berlusconis Mannschaft gewöhnt war. Das Trauma vom 25. Mai 2005, als der AC in Istanbul den nach der 3:0-Führung der ersten Halbzeit schon sicher gewähnten Sieg im Europacup-Finale gegen Liverpool verlor, sitzt tief.

Niemand kann das so gut nachvollziehen wie die Bayern, die ja auch lange am Manchester-Schock zu knacken hatten, inzwischen aber wiedererstarkt sind. Auch deshalb ist Bayern München für Milan der Angstgegner. "Ballack ist ein sehr guter Spieler, aber ich fürchte die Stärke der ganzen Mannschaft", hat ein ungewohnt demütiger Rino Gattuso erklärt. "Auch der Trainer ist stark. Magath scheint mir ein harter Knochen zu sein. Ein Sergeant aus Eisen."

Das würde von Carlo Ancelotti wohl niemand behaupten. Gegen Cagliari hat Milan am Samstag mit dem WM-Ball "Teamgeist" gespielt. Man ist abergläubisch in Milanello. Nicht der Teamgeist aber brachte den Sieg, sondern ein Elfmeter, den sich der einschlägig bekannte Filippo Inzaghi in gewohnt theatralischer Manier erfallen hatte. Doch der fallsüchtige Inzaghi symbolisiert noch lange nicht das Team - das hat nach schwierigen Wochen wieder Tritt gefasst und kann sich trotz der Verletzungsausfälle der Abwehrveteranen Maldini und Cafù derzeit sogar der besten Verteidigung rühmen.

Auch wenn kein Spitzenklub unter den Gegnern war: Nur zwei Tore hat Milan in den ersten sieben Spielen der Rückrunde kassiert. Die eigene Torbilanz lässt sich mit 15 Treffern sehen, bleibt allerdings hinter den 20 Toren des AS Rom deutlich zurück.

Und das kann Silvio Berlusconi nicht reichen. Der Patron, dessen Präsidentenamt nach dem Rücktritt infolge des Interessenkonflikt-Gesetzes weiter vakant ist, hat dem vorsichtigen Ancelotti mindestens zwei Stürmer in der Stammformation auferlegt, damit Milan stets ein Bild ungebrochener Offensivkraft vermittelt.

Auch Alberto Gilardino, der als größtes italienisches Talent im vergangenen Sommer für 25 Millionen Euro vom AC Parma geholt wurde, hält nicht ganz, was er versprach. Hinter Luca Toni vom AC Florenz und David Trezeguet von Juventus ist er Dritter in der Torjägerliste.

Milan fliegt nicht, sondern hält sich nur an der Oberfläche. Enttäuschend für das teuerste Team der Serie A, und zu wenig für einen Klub, der sich in freundlicher Kooperation mit der Rivalin Juventus den Markt der TV-Übertragungsrechte aufgeteilt hat (Berlusconis Mediaset zahlte an beide Klubs rund 100 Millionen Euro pro Jahr), und dessen finanzielle Möglichkeiten dank des unermesslichen Reichtums seines Besitzers schier grenzenlos sind - und der bis dato keine unbedeutende Rolle für Berlusconis Wahlkampfstrategen gespielt hat.

Jetzt ist wieder Wahlkampf, doch Berlusconi verzichtet erstmals darauf, im Mailänder Meazza-Stadion Hof zu halten. Er lässt sich auf der Vip-Tribüne kaum noch blicken.

Sicher, die Regierungsverantwortung hält ihn auch mal in Rom, wenn gerade ein Minister zurückgetreten ist, dessen Fernseh-Auftritt mit einer Mohammed-Karikatur auf dem T-Shirt Ausschreitungen mit elf Toten im Nachbarland Libyen provoziert hat. Aber früher wäre Berlusconi trotzdem auf die Vip-Tribüne geeilt. Oder gerade deswegen. Die Zeiten können noch so schwierig sein, mein Milan hält Kurs. In diesem Stil.

Neuerdings aber hält sich "der erfolgreichste Klubbesitzer aller Zeiten" (Selbstbezichtigung) auffallend zurück. Zum traditionellen Schulterklopfen für die Mannschaft kurz vor dem Abflug nach München erschien Berlusconi auch nicht, er ließ sich im letzten Moment entschuldigen und übergab gute Wünsche an seinen Vikar Adriano Galliani.

Jetzt kann man sich fragen: Ist die Lage bei Milan so ernst, dass der Ministerpräsident sich im Wahlkampf lieber nicht auf seine Mannschaft verlassen will? Oder ist die Lage in Italien so ernst, dass man sich als Regierungschef besser nicht mit dem Fußball in den Vordergrund rücken mag? Wie dem auch sei, der Ernstfall ist da.

Sonst kriecht ein Filippo Inzaghi nicht durchs Unterholz.

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