Volleyball:Die Wanderarbeiter

GER, VBL, VfB Friedrichshafen vs SVG Lüneburg / Lueneburg / 06.10.2021, ratiopharm Arena, Neu-Ulm, GER, VBL, VfB Friedr

Freude vorerst nur auf dem Feld: Friedrichshafens Volleyballer nach einem Punktgewinn von Simon Hiirsch (re.).

(Foto: Hafner/Nordphoto/Imago)

Der VfB Friedrichshafen schlägt Lüneburg beim Saisonauftakt mit 3:1 - sucht aber nach seiner Identität. Das Heimspiel fand in Neu-Ulm statt, eine langfristige Lösung für die in ihrer Heimat hallenlosen Volleyballer ist nicht in Sicht.

Von Sebastian Winter, Neu-Ulm

Nebelmaschinen und Feuershows sind auch im Volleyball längst ein beliebtes Mittel beim Einlaufzeremoniell der Profis. Sie liefern schöne Bilder fürs Fernsehen und für die Zuschauer, die nun wieder in die Arenen kommen dürfen. Auch am Mittwochabend war das so, viel heiße Luft und milchige Schwaden zogen durch die Halle, bevor Friedrichshafens Volleyballer den ersten Aufschlag der Saison gegen die SVG Lüneburg übers Netz droschen. Und vielleicht passt das ganz gut zur derzeitigen Lage beim so ruhmreichen Klub. Sie ist, um im Bild zu bleiben, trotz des 3:1-Auftakterfolgs so diffus wie erhitzt. Als der Nebel sich lichtete, sah man jedenfalls vor allem leere Ränge in Friedrichshafens neuer Heimspiel-Halle in Neu-Ulm. Neu-Ulm?

Die VfB-Profis sind schon seit einem Jahr ohne sportliche Heimat, Ende September 2020 - drei Wochen vor dem Saisonstart - wurde ihre ZF-Arena wegen baulicher Mängel über Nacht von der Stadt zugesperrt. Immerhin durften sie damals innerhalb der Stadt in eine Messehalle umziehen, Messen gab es inmitten der Corona-Pandemie ja nicht. Doch das Geschäft fängt nun wieder an zu brummen, für die Volleyballer ist kein Platz mehr. Sie ziehen nun weiter, ins mehr als 100 Kilometer nördlich gelegene und eineinhalb Stunden Fahrzeit entfernte Neu-Ulm. Die dortige Ratiopharm-Arena ist auch die Heimat von Ulms Profi-Basketballern, sie fasst 6200 Zuschauer. Zum Spiel Friedrichshafens kamen exakt 500.

Für den Anhang heißt das: 100 Kilometer zum Heimspiel fahren

Dabei hatte der VfB-Geschäftsführer Thilo Späth-Westerhold mit 2000 Fans gerechnet. Es ist nicht so, dass sie die Werbetrommel zu wenig gerührt hätten. Zeitungsannoncen, Radiospots, Plakate, Freikarten für die örtlichen Vereine und Aufrufe in den sozialen Netzwerken, all das gab es. Aber wie soll das auch gehen, binnen Monaten Identifikation herzustellen in einer fremden Stadt? Die werden sie aber noch brauchen, der Vertrag mit ihrer neuen Arena läuft über die komplette Saison.

Späth-Westerhold ist schon froh, überhaupt so eine große Halle bekommen zu haben, in Friedrichshafen und Umgebung gibt es da nichts. Fürs Training pendelt die Mannschaft zwischen der Messe, wo sie noch üben darf und wo die Geschäftsstelle untergekommen ist, und Schulturnhallen hin und her.

Auch für die Fans vom Bodensee ist die Situation eine Zumutung, erst durften sie wegen des Virus nicht in die Halle, jetzt müssen sie stundenlang zum Heimspiel fahren. Viele schimpfen: "Da fährt doch keiner vom Bodensee aus hin", schrieb einer bei Instagram, "zur übernächsten Saison bricht der Verein dann wahrscheinlich komplett zusammen", ein anderer. Silvia Meschenmoser vom VfB-Fanklub Bluebears hat den Weg nach Neu-Ulm immerhin auf sich genommen: "Natürlich ist es nicht toll, dass wir so weit fahren müssen, dass die Messe nicht frei ist", sagt sie auf der Tribüne: "Wir verstehen nicht, dass es keine Möglichkeit in Friedrichshafen gibt."

Das Dilemma nagt am Selbstverständnis des VfB - und es könnte bald existenziell werden

Die Schließung der ZF-Arena wurde mit zu starker Korrosion an den Stahlseilen der Dachkonstruktion begründet, zwei Gutachten bestätigten dies. Die Frage ist nun, ob man die denkmalgeschützte Halle renoviert oder gleich einen Neubau wagt. Beides würde Jahre dauern. Dritte Alternative: Man macht gar nichts. Die Messe versteht sich zugleich nicht als Sportförderer, sie hat die Volleyballer halt in der Not übergangsweise beherbergt. "Wir haben einen Wirtschaftsauftrag, der hat Vorfahrt", sagt Sprecher Frank Gauss der SZ. Messe, Stadt und Klub sprechen miteinander, aber auf einen gemeinsamen Nenner sind sie bislang nicht gekommen.

Das Dilemma nagt nicht nur am stolzen Selbstverständnis des VfB, der bislang als sportliches Aushängeschild einer ganzen Region firmierte - es könnte bald existenziell werden. Der zwölfmalige Meister und 16-malige Pokalsieger, dem 2007 unter Trainer Stelian Moculescu das Triple mit dem Champions-League-Triumph gelang, hat seine sportliche Alleinstellung ohnehin längst an die Berlin Recycling Volleys abgetreten. Der Etat ist geschrumpft, das Zuschauerinteresse zurückgegangen. "Es hat ja Gründe, warum Berlin uns überholt hat", sagt Späth-Westerhold. Die Volleys haben sich eng mit ihrer Stadt und den anderen dortigen Großklubs vernetzt, ihr Einzugsgebiet ist riesig, ihr Zuschauerschnitt der beste Volleyball-Europas, das hippe Berlin zieht auch die Stars unter den Spielern an. Der VfB spielt in einer zersiedelten, kleinstädtischen, konservativen Landschaft, er stößt strukturell an eine unsichtbare Decke und ist schon lange nicht mehr der Klub, zu dessen Heimspielen die Menschen am See wie selbstverständlich pilgern. Erst recht nicht nach Neu-Ulm.

Auch, weil frühere Identifikationsfiguren fehlen, wie Libero Markus Steuerwald oder Zuspieler Simon Tischer. Der einzige verbliebene Profi aus der vergangenen Saison, der gegen Lüneburg in der Stammformation stand, war Marcus Böhme. "Wir müssen uns auch an die eigene Nase fassen, brauchen wieder mehr Kontinuität bei der Mannschaft", sagt Späth-Westerhold, der Geschäftsführer. Der neue Trainer Mark Lebedew soll den VfB sportlich wieder näher an Berlin heranbringen, der Australier kennt sich aus mit Erfolgen, dreimal gewann er mit den Volleys die Meisterschaft. Er ahnt wohl selbst noch nicht, welch schwere Aufgabe er übernommen hat.

Was macht das alles mit Friedrichshafen und mit seinen Anhängern? Es geht ja auch um Identität, die nun droht, verloren zu gehen. "Wir tun alles dafür, dass das nicht passiert. Wir müssen einen Spagat schaffen, die Bindung zu Friedrichshafen nicht verlieren, aber hier neue Fans gewinnen. Die Frage ist: Was passiert in zwei, drei Jahren?", sagt Späth-Westerhold. Die Spieler erledigen bis dahin erstmal weiter ihren Job als Wanderarbeiter. Am Samstag in einer Woche erwarten sie in Neu-Ulm wieder Nebel, Feuer - und den Meister Berlin.

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