Vierschanzentournee:Warum ein Skispringer wie ein Ballon schwebt

Absprung

Wenige Sekunden befindet sich der Springer in der Luft, dann ist der Flug vorbei.

(Foto: imago)

Wie gelingt es dem Athleten, so lange durch die Luft zu segeln? Wieso ist der Absprung das Entscheidende? Skispringen ist eine der komplexesten Sportarten - so geht es.

Von Lisa Sonnabend

Nach wenigen Sekunden ist es vorbei. Die Zuschauer schreien "Ziiiiiiieh", dann hat der Skispringer bereits wieder Boden unter den Füßen, die TV-Sender richten die Kameras auf den nächsten Athleten, der sich oben auf der Sprungschanze bereit macht. So wird es auch an diesem Samstag ablaufen, wenn die Vierschanzentournee, die berühmteste Sprungserie der Welt, in Oberstdorf beginnt. In diesen wenigen Sekunden spulen die Springer allerdings einen Bewegungsablauf ab, der von außen so einfach aussieht, aber so kompliziert ist wie kaum ein anderer im Sport.

Ende des 19. Jahrhunderts landeten die Skispringer nach gerade einmal 20 Metern im Schnee, heute springen sie weit mehr als 100 Meter. Beim Skifliegen sogar bis zu 253,5 Meter - diesen Rekord stellte der Österreicher Stefan Kraft im März 2017 im norwegischen Vikersund auf. Es kommt dabei nicht nur auf Athletik und Technik an, sondern auch auf physikalische Berechnungen. Die Springer wissen genau, wie sie sich in der Anlaufspur bewegen müssen, wie sie abspringen sollten, um optimal in die Fluphase zu kommen.

Die Springer setzen sich in Oberstdorf auf einen Balken, der auf einem 44 Meter hohen Schanzenturm angebracht ist. Von dort stoßen sie sich möglichst kräftig ab und gleiten auf einer 108 Meter langen Anlaufspur hinunter, bis sie abheben. Es gilt dabei, eine möglichst hohe Geschwindigkeit zu erreichen, der Anlauf ist in einem Winkel von 38 Grad geneigt. Denn je schneller der Skispringer ist, wenn er vom Schanzentisch abspringt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sein Flug weit geht.

Nach dem Abstoßen geht der Athlet tief in die Hocke, er legt die Hände an die Körperseiten an und er trägt keine flatternde Kleidung, sondern einen eng anliegenden Anzug. So hält er den Luftwiderstand möglichst klein. Zudem ist es wichtig, dass die Reibung zwischen Skiern und Schnee möglichst gering ist, die Skier müssen gut gewachst sein und dürfen nicht auf dem Schnee verkanten, die Spur muss frei sein, keine Schneekörner sollten auf ihr liegen. Wenn der Springer in Oberstdorf unten am Schanzentisch angekommen ist, saust er mit einer Geschwindigkeit von bis zu 92 Kilometern pro Stunde auf die Absprungrampe zu.

Nun steht die entscheidende, allerdings auch die schwierigste Phase eines Sprunges an. Idealerweise stößt sich ein Athlet genau an der Kante des Schanzentisches ab. Ist er zu spät dran, gelingt der Absprung nicht kräftig genug. Ist er zu früh dran, verschenkt er wertvolle Meter bei der Weite, er erreicht nicht die optimale Flugkurve. Allerdings ist es alles andere als einfach, den perfekten Absprungmoment zu erwischen; denn dem Sportler, der so schnell wie ein Auto auf der Autobahn angerast kommt, bleiben gerade einmal zwei Hundertstel Sekunden Zeit, um im richtigen Moment von der Schanze abzuspringen. Er muss sich gleichzeitig nach oben strecken und den Oberkörper nach vorne schieben, um in die Flugposition zu gelangen.

Beim Absprung kommt es neben der Physik und der Technik vor allem auf die Psyche an. Das perfekte Timing entscheidet, ob ein Satz gelingt. Der Deutsche Richard Freitag trifft den Punkt zum Absprung derzeit am besten, er eroberte zuletzt einen Podestplatz nach dem anderen und dominiert den Gesamtweltcup. Sein Teamkollege Andreas Wellinger ist Weltcup-Zweiter, auch er spürt derzeit den Flow. "Wenn man in Form ist und das richtige Gefühl hat, kann man locker losspringen - und das ist meist am besten", sagte der 22-Jährige vor kurzem.

Das Problem der Skispringer ist: Irgendwann ist dieses gute Gefühl plötzlich weg, das Timing beim Absprung passt nicht mehr. Springer, die wochenlang die Szene dominierten, brechen plötzlich ein und es dauert oft lange, bis die Abstimmung wieder stimmt und das Selbstvertrauen so groß ist, dass sie zurück in die Weltspitze finden. Manchen gelingt dies auch gar nicht mehr, Karrieren können so schnell vorbei sein wie ein Sprung.

Nun fliegt der Springer

Nun fliegt der Springer - und nun gilt: Der Luftwiderstand stört nicht mehr, stattdessen muss er möglichst groß sein. Der Athlet bildet mit seinem Körper ein Luftpolster, er bietet der Luft jetzt eine möglichst große Angriffsfläche und er nutzt den aerodynamischen Auftrieb. Wie ein Ballon schwebt er zu Boden.

Während die Springer früher beim Flug ihre Skier parallel zum Körper stellten, formen sie seit Ende der achtziger Jahre mit diesen ein V. Der Schwede Jan Boklöv kam damals im Training ins Straucheln. Um seine Lage zu stabilisieren, öffnete er die Skispitzen nach außen und stellte fest: Er flog so deutlich weiter. Fortan sprang er im V-Stil, gewann 1989 mit seiner unkonventionellen Art den Gesamtweltcup. Dann zog die Konkurrenz nach und ihm wieder davon. Dank des V-Stils bilden die Skier und Körper des Sportlers eine größere Fläche in der Luft, er kommt etwa zehn Prozent weiter als im Parallelstil. Die Arme hält der Springer während des Flugs nach hinten ausgestreckt, die Handflächen sind ausgebreitet, so vergrößert sich die Fläche noch einmal um ein paar Zentimeter und der Springer kann Ungenauigkeiten leichter ausgleichen.

Um entscheidende Meter herauszuholen, wurde in den vergangenen Jahren auch intensiv über die Beschaffenheit der Sprunganzüge geforscht. Auf der Bauchseite ist der Anzug luftdurchlässig, auf der Rückseite dagegen lässt er keine Luft durch, was den Balloneffekt verstärkt. Die Regeln schreiben etwa vor, dass der Chintz-Stoff der Anzüge nur zwischen drei und fünf Millimetern dick sein darf. An den Ärmelenden bringen die Sportler Schlaufen an, die sie mit den Fingern festziehen, damit ihre Sprungkleidung möglichst faltenfrei sitzt.

Ein physikalisches Gesetz besagt zudem: Je weniger Gewicht ein Springer hat, desto langsamer nähert er sich dem Boden. Leichtgewichte fliegen also weiter. Dieses physikalische Gesetz führte dazu, dass es inzwischen ein Mindestgewicht für Springer gibt, um Krankheiten wie Magersucht zu verhindern. Der Skiweltverband Fis schreibt einen Body-Mass-Index von mindestens 21 für einen Springer inklusive Anzug und Schuhe vor. Nur dann darf der Athlet die volle Skilänge, die 145 Prozent der Körpergröße beträgt, nutzen. Bei Untergewicht müssen die Sprungski gekürzt werden, was wiederum die Tragfläche verkleinert und somit einen Nachteil darstellt. Ein 1,80 Meter großer Skispringer muss demnach angezogen mindestens 68 Kilogramm auf die Waage an der Schanze bringen, um seine 2,60 Meter langen Skier nutzen zu dürfen.

Ob ein Sprung weit geht, liegt allerdings nicht nur in der Hand der Springer und der Techniker, die ihnen das optimale Material zur Verfügung stellen, sondern auch an der Natur. Denn Rückenwind ist bei den Skispringern so beliebt wie Flaute bei den Seglern, er ist ihr Feind. Kommt der Wind von hinten, drückt er den Springer von oben nach unten, er landet früher. Gegenwind dagegen vergrößert das Luftpolster, weitere Sätze sind die Konsequenz. Um allen Startern gleiche Bedingungen zu ermöglichen, werden die Windverhältnisse im Wettbewerb berücksichtigt und bei der Weitenmessung mit einberechnet.

Was beim Bau der Schanze zu beachten ist

Würde ein Skispringer durch ein Vakuum hüpfen, würde er mit voller Geschwindigkeit auf dem Boden aufprallen. Es gäbe keinen Luftwiderstand. Da er jedoch sanft auf seinem Luftpolster hinabgleitet, gelingt es ihm zu landen, ohne sich Knochenbrüche zuzuziehen. Bei einer Höhe von etwa einem halben Meter über dem Boden beginnt der Athlet mit der Landung und richtet sich auf. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, breitet er die Arme auseinander, mit den Beinen macht er eine Art Ausfallschritt, geht in die Hocke und beugt das hintere Bein tiefer als das vordere. Diese Landetechnik nennt sich Telemark.

Das Ziel muss dabei sein, eine möglichst schöne Landung zu zeigen. Denn beim Skispringen wird nicht nur die Weite gemessen, sondern auch die Haltung bewertet. Wer bei der Landung schludert, wackelt oder gar hinfällt, bekommt Abzüge. Geht ein Sprung etwa unerwartet weit, hat der Springer oft keine Zeit mehr, einen Telemark zu setzen, er landet dann mit beiden Beinen gleichzeitig, was die Wettkampfrichter nicht gerne sehen. Die Höchstnote bei der Landung beträgt 20, diese wird jedoch äußerst selten erreicht.

Beim Bau einer Schanze darf es nicht nur um ein Höher, Schneller und Weiter gehen, sondern vor allem um die Sicherheit der Springer. Um diese nicht zu gefährden, gilt es, einige physikalische Kräfte zu berücksichtigen. So ist der Schanzentisch leicht nach unten gekrümmt - meist in einem Winkel zwischen neun und zehn Grad. Wäre der Absprungbereich waagrecht oder gar nach oben gerichtet, würde der Luftwiderstand den Springer ordentlich herumwirbeln und dieser einen Salto rückwärts schlagen. Trickski-Schanzen sind deswegen so gebaut.

Auch in der Landezone muss einiges beachtet werden. Der Aufsprunghügel ist so gestaltet, dass die erwartete Flugbahn des Springers berücksichtigt ist. Jede Schanze hat einen Normpunkt, bei dem der Springer frühestens landen sollte, sowie einen kritischen Punkt, bei dem er spätestens wieder Boden unter den Füßen haben sollte.

Denn dort ist der Hang verhältnismäßig steil, der Landewinkel zwischen Flugbahn und Boden, in dem der Springer aufkommt, ist deswegen spitzer. Hinter dem kritischen Punkt dagegen geht die Piste in eine negative Krümmung über, die schließlich in den flachen Auslaufbereich mündet. Macht ein Springer einen unerwartet weiten Satz über den K-Punkt hinaus, wird der Landewinkel zu groß. Der Athlet hat Probleme, den Sprung zu stehen, es kann zu schlimmen Stürzen kommen. Die Lage des kritischen Punktes ist also eine Art Obergrenze für jede Schanze. Wird sie überflogen, berät sich die Jury, den Anlauf zu verkürzen. In Oberstdorf liegt der kritische Punkt bei 137 Metern - ob Richard Freitag in seiner guten Form diesem am Samstag nahe kommt?

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