Vierschanzentournee:Der Führende springt schief

Lesezeit: 3 min

Grübler in der Luft: Der Norweger Halvor Egner Granerud fliegt bisher weiter als alle anderen Tüftler. (Foto: Hafner/Nordphoto/Imago)

Halvor Egner Granerud ist zum Auftakt einer ohnehin schon starken Tournee-Spitze mit seinem ganz eigenen Stil mühelos davongesprungen. Die Konkurrenz setzt nun auf die möglichen Selbstzweifel des nachdenklichen Norwegers.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Vielleicht grübelt er jetzt wieder. Es ist jedenfalls denkbar. Vielleicht schleicht sich wieder ein Zweifel in seinen Kopf, nistet sich dort ein und beginnt zu wachsen. Zweifel ernähren sich ja selbst und zeugen immer weitere Zweifel. Sicher, niemand wünscht einem Gegner etwas Böses, trotzdem ist der Gedanke doch erlaubt: Der Winter vor zwei Jahren etwa - da hatte Halvor Egner Granerud bereits fünf Weltcupsiege vor der Tournee errungen, und dann? Stand der große norwegische Favorit am Ende nicht einmal auf dem Podest.

Aber Skispringen ist ein fairer Sport, die Regeln für Wind und Wetter sind optimiert, jeder kennt jeden und wünscht niemandem Ungemach. Auch im turbulenten Auftaktspringen der Vierschanzentournee am Donnerstag in Oberstdorf, das einen gewaltigen Satz nach dem anderen hervorbrachte, klatschten sich die Springer fair ab, und am Ende übertraf der 26-jährige Granerud alle mit zwei noch gewaltigeren Sprüngen. Stefan Horngacher, der durchaus psychologisch bewanderte Trainer der Deutschen, bemerkte: "Wir haben das gut gemacht heute", und fügte dazu: "Der Granerud hat sich einen großen Rucksack abgeholt."

Einer springt schief
:Das sind die Favoriten bei der Vierschanzentournee

Vor dem Auftakt in Oberstdorf stehen fünf Springer im Fokus: Ein Pole mit Hubschrauber-Technik, ein stabiler Slowene, ein fröhlicher Österreicher, ein Deutscher mit Heimvorteil - und ein Norweger mit Schlagseite.

Von Volker Kreisl

Womöglich hat der Coach der Deutschen darauf angespielt, dass dieses Auftaktspringen eine selten große Gruppe von Zweitfavoriten hervorgebracht hatte. Hinter Granerud versammelten sich fünf Springer, die noch Chancen auf einen Podestplatz haben. Die beiden Polen Piotr Zyla und Dawid Kubacki, zudem der Oberstdorfer Karl Geiger, der Österreicher Stefan Kraft und Andreas Wellinger, dessen Fußbeschwerden abgeklungen sind und der nun im Ranking auf Platz sechs steht.

Sie alle haben an diesem Abend noch nicht ihre besten Sprünge gezeigt. Zyla vielleicht noch am ehesten, er jubelte jedenfalls derart beglückt, dass er hinterher wohl kaum noch eine Stimme hatte. Mit dieser pünktlichen Steigerung war kaum zu rechnen. Auch sein Teamkollege Kubacki hat im zweiten Flug einiges liegen lassen, ebenso Geiger und Wellinger. Andererseits, die Augen der beiden Deutschen leuchteten und glänzten besonders hell an diesem Abend, weil sie sich immer noch auf der Rückkehr in die Bestform befinden, sich also weiter steigern können.

Marotte erlaubt: Granerud soll lieber ein danebenlandender Sieger sein als ein symmetrischer Verlierer

Granerud dagegen, so ist jedenfalls die Hoffnung der Konkurrenz, hat in seinem schweren Rucksack jetzt zwei absolvierte Sprünge, die er kaum noch steigern kann. Er hat also eher etwas zu verlieren, und das wiederum ist ein Gedanke, der auch psychologisch sattelfesteren Führenden nachts um drei Uhr kommen kann.

Alexander Stöckl, sein Trainer, der ihn seit Jahren kennt, hatte vor der Tournee Einblicke in die Stärken und Schwächen seiner Springer gegeben. Das Verhängnis, das Granerud womöglich die Tournee-Siege in den vergangenen zwei Jahren kostete, verortet Stöckl in dessen eigenen Gedanken. Sei präsent, lass deine Gedanken los, lebe im Jetzt: Diese durchaus richtigen Tipps auch für Sportler saugen Springer besonders auf. Doch Granerud, sagt Stöckl, behalte eine Tendenz, zu sehr seine alten Sprünge mit heute zu vergleichen, überhaupt zu viel über die Sprünge nachzudenken. Man müsse als Springer "im Hier und Jetzt bleiben und nicht vorausdenken, was in der Zukunft ist", sagt Stöckl.

Talentierter Querflieger: Dass Halvor Egner Granerud in Oberstdorf den Pokal überreicht bekam, heißt jedoch noch nichts für den Rest der Tourneeschanzen. (Foto: Angelika Warmuth/dpa)

Und dann ist da noch die andere Baustelle, eine Schwäche, die Granerud bislang vielleicht ähnlich gebremst hat wie sein angestrengter Kopf. Er ist ein Querflieger, er hebt ab und driftet teils heftig nach rechts. Das hängt zusammen mit seiner unsymmetrischen Bein- und Armstellung, die ihn schon mal auf der Plastikplane neben der Bande landen ließ, die aber nicht ohne Weiteres korrigiert werden kann. Denn niemand weiß, ob Granerud, wenn er sich das Schrägfliegen mühsam abgewöhnt hat und schön gerade gleitet, immer noch weit unten landet.

Die Umstellung wäre derart diffizil, dass sogar das Krafttraining leiden könnte. Spezifische Übungen könnten nach hinten losgehen, Stöckl befürchtet, eine Übungsstellung, etwa eine Hocke, würde Granerud wohl supersymmetrisch ausführen, jedoch automatisch mit weniger Krafteinsatz. "Krafttraining brauchst du aber", sagt Stöckl. Und weil der Wechsel auf eine weichere und in der Luft besser koordinierbare Skimarke bereits eine Annäherung an die Mitte brachte, wurde beschlossen, dass Granerud erst mal nichts ändert und lieber ein danebenlandender Sieger sein solle als ein symmetrischer Verlierer.

In Oberstdorf hat das nun recht gut geklappt, doch das heißt noch nichts für den Rest der Tourneeschanzen. Die haben unterschiedliche Herausforderungen, insbesondere der enge Bakken in Innsbruck oder der in Garmisch, auf dem Granerud im vergangenen Winter seine zweite große Chance auf einen Tourneesieg versprang; als Achter hatte er keine Chance mehr gegen den führenden Japaner Ryoyu Kobayashi.

Das sind so die Überlegungen, von denen die Rivalen nun zart hoffen, dass sie den Norweger noch beschäftigen. Es kann ja sein, dass die Gedanken vielleicht nachts oder auch im entscheidenden Moment vor dem Start auf dem Balken aus dem Rucksack kommen und ihn ein bisschen zweifeln lassen vor seinem bislang größten Augenblick, seiner nächsten großen Chance.

Kann aber auch gut sein, dass er das Kinderspiel hinter sich hat, darübersteht und den anderen einfach weiter davonfliegt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Skispringen
:Vom Bodensee an die Spitze

Kletterin, Pädagogin, Skisprung-Führende: Die Österreicherin Eva Pinkelnig war mehrmals schwer verletzt. Bei der Silvestertournee hat sie nun ihre Bestform erreicht.

Von Volker Kreisl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: