Süddeutsche Zeitung

Skispringer Noriaki Kasai:Das Lächeln verschwindet

  • Noriaki Kasai gehört zur Vierschanzenturnee wie die Garmischer Olympiaschanze.
  • In diesem Jahr ist er erstmals seit 25 Jahren nicht mehr dabei.
  • Doch ans Aufhören denkt die japanische Skisprunglegende noch lange nicht.

Von Volker Kreisl

Von ihm konnte man sich damals einiges abschauen. Zum Beispiel die nach vorne gedrehten Hände. Noriaki Kasai hatte schon früh seine Handflächen in den Wind gestellt, und die Finger gespreizt wie Gefieder. Cool sah das aus, fanden manche Kinder einst, und als sie irgendwann selber mit dem Skispringen begannen, da spreizten sie ihre Finger auch.

Die Jüngeren sind heute schon wieder abgetreten oder längst etabliert, Stefan Kraft, dem das mit den Händen auch auffiel, ist sogar Teamleader der Österreicher - und Kasai springt immer noch, heute, Ende 2019. Gut, er macht gerade ein Leistungstief durch, vermutlich sogar das tiefste Form-Tal, durch das er jemals gehen musste, aber er sagt, er werde darum kämpfen zurückzukehren.

Sein ehemaliger Kollege und jetziger Trainer gab anderen den Vorzug

Kasai, 47 Jahre alt, seit 1988 in knapp 570 Weltcups dabei, Skiflugweltmeister im Jahre, Moment ... richtig: 1992, und seither bis auf eine kurze Pause - das muss der Winter 94/95 gewesen sein - bei allen 28 Ausgaben der Vierschanzentournee mit von der Partie, wird erstmals fehlen. Er hat in den vergangenen Wochen kaum noch eine Qualifikation überstanden. Und nun, da die nächste, nein die übernächste Generation ihn übertrumpft, ist es umso schwerer mitzuhalten. Trainer Hideharu Miyahira, einst Springer neben Kasai, hatte ihn zunächst aufgrund seiner soliden Leistungen in der vergangenen Saison fürs Weltcupteam aufgestellt. Nun war er gezwungen, anderen den Vorzug zu geben.

Dennoch ist es noch zu früh, einen Strich unter diese Karriere zu ziehen, denn Kasai ist mehr als nur ein bizarres Skisprung-Faktotum, das in einem extremen Sport irgendwie hängen geblieben ist, das lächelnd immer weiter springt und über dessen Ausdauer als Sport-Fossil jährlich aufs Neue verblüffte Artikel verfasst werden. Wobei in letzter Zeit die Artikeldichte vielleicht wegen Erschöpfung etwas nachließ - Kasais Ehrgeiz jedoch nicht.

Er ist immer noch ein Hochleistungsskispringer, und die hassen es, wenn ihre mysteriöse Form zickt, und nicht ersichtlich ist, woran es liegt. In diesem Sport geht es nicht nur um das Abrufen von antrainiertem Potenzial, sondern um das Erreichen einer Art leichtem Zustand. Bleibt der aus, dann verschwindet auch das Lächeln aus Kasais Gesicht, und er geht unten in der Mixed-Zone, die Latten auf den Schultern, stumm an allen Journalisten vorbei.

Auch zurzeit ist das so: "Mein Gefühl auf der Schanze stimmt nicht", hat er nur erklärt. Kasais Sprung mangelt es offenbar an mehreren Stellen, natürlich an dem Rückstand an Kraft und Dynamik, die man mit 47, wenn der Körper nun mal abbaut, schon hat. Die Tiefe der Anfahrtshocke, das Katapult beim Absprung, die Streckung in der Luft gelingen Jüngeren besser.

Und dann der Rücken, der ihm schon länger wehtut, und die Knie, die bei der Landung seit 30 Jahren belastet werden! Kasai gleicht dies zwar angeblich mit besonders effektiven Ruhephasen aus, aber auch die helfen nicht, wenn seine wichtigste Stärke nicht mehr greift, wie in all der Zeit. Da war er immer imstande, und das ist wohl das eigentlich Besondere an Noriaki Kasai, sich an die Entwicklungen des Skispringens anzupassen.

Dieser Sport erfindet sich alle paar Jahre aufs Neue. Als Kasai das Springen erlernte, galt noch der Parallelstil. Mitte der Achtziger wurde umgestellt auf die V-förmige Skihaltung, mit der auch Kasais Siegesserie begann. Kasai schwebte beständig durch die Neunziger und Nullerjahre, als erst immer leichtere und dann plötzlich wieder sprungkräftige Artisten angesagt waren. Er stellte sich auf den gebogenen Bindungsstab ein, genauso wie auf die Keile zwischen Wade und Schuh, ohne die man irgendwann nicht mehr auskam, wollte man in der Absprungphase nicht zu viel Zeit verlieren.

Als "fliegender Teamchef" bildet er seine Nachfolger direkt aus

Acht Medaillen gewann er bei Weltmeisterschaften, drei bei Olympia, elf insgesamt. Die meisten davon gelangen mit der Mannschaft, die erste 1994, die bislang letzte 2015. Zuletzt gewann er im Weltcup vor knapp sechs Jahren im Skifliegen, in jener Disziplin, die weniger von Athletik als von Fluggefühl bestimmt ist. Mittlerweile hat aber der dynamische Absprung mit sofortiger Verwandlung in ein gestrecktes Flugobjekt eine dermaßen starke Bedeutung für den Erfolg, dass Kasais Aussichten tatsächlich nicht sonderlich erfreulich sind.

Vielleicht ist es in dieser Situation sogar tröstlich, dass Noriaki Kasai unter anderem auch selber zu dieser Entwicklung, also zu seiner eigenen Schwächung beigetragen hat. Denn in letzter Zeit dominiert einer dieser jüngeren Instinktspringer ganz besonders. Er faltet sich nach dem Absprung auf, früher als die meisten anderen, und er hat mit seinen Erfolgen gleich eine ganze Mannschaft inspiriert, die nun die Zukunft ihres Verbandes darstellt. Der Trainer sagt: "Das war ein Synergieeffekt", einer habe den anderen motiviert. Der Trainer heißt Hideharu Miyahira, die Mannschaft ist die japanische, der Inspirator ist der junge Tournee-Titelverteidiger Ryoyu Kobayashi und dessen langjähriger Förderer aus dem Klub Tsuchia Home, das ist Noriaki Kasai.

"Ich habe ihm viel zu verdanken", hat Kobayashi, 23, kürzlich gesagt. Und Kasai, der nebenbei auch Teamchef in selbigem Klub ist, dessen Ziel aber noch viele Großveranstaltungen sein könnten, er dürfte trotz seiner schweren Formkrise stolz auf seine Nachfolger sein.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2019/lys
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