Nüchtern betrachtet kann eine Siegerzeremonie eine ganz schön lästige Angelegenheit sein. In Oberstdorf zum Beispiel muss der Gewinner des Auftaktspringens der Vierschanzentournee erst einmal rund 150 Meter mit schweren und langen Latten auf den Schultern zurücklegen bis er den Sehnsuchtsort in der Auslaufzone erreicht hat: das Siegertreppchen. Zumindest den schweren Gang dorthin machen ein Roter Teppich, viele brennende Fackeln im Kunstschnee und jubelnde Zuschauer erträglicher.
Severin Freund hatte die Strapazen am Dienstagabend natürlich gerne auf sich genommen. Es war ein historischer Tag für den Skispringer vom SC Rastbüchl. Er war der erste deutsche Sieger in Oberstdorf seit dreizehn Jahren, seit Sven Hannawald zum bisher letzten Mal im Allgäu gewonnen hatte. "Wir räumen langsam die Altlasten ab", sagte Freund nach seinem Triumph vor dem Österreicher Michael Hayböck und dem Slowenen Peter Prevc.
13 Jahre sind im Sport ein Ewigkeit, das lange Warten auf den ersehnten Sieg beschäftigte natürlich auch die deutschen Skispringer, die in den vergangenen Jahren unter Bundestrainer Werner Schuster zwar einen gedeihlichen Aufschwung erlebt haben, aber stets bei der Tournee auf den harten Boden der Wirklichkeit gelandet waren und schon beim ersten Springen alle Chancen auf den Gesamterfolg verspielt hatten. "Diesen Sieg haben sich so viele Menschen gewünscht und ich freue mich jetzt für sie und auch für mich, dass ich diesen Wunsch nun erfüllen konnte", sagte Freund.
Auch wenn es aus seinen Worten nicht so recht herauszuhören war, für Freund selbst war es eine emotionale Siegerehrung. Er war so gerührt, dass seine Augen feucht wurden, als die Mehrheit der 25 500 Zuschauer im Skistadion die Nationalhymne anstimmten. "Das war sehr speziell", gab Freund dann noch zu, weil bei seinem Sieg im vergangenen Jahr in Willingen die Zuschauer "noch zaghafter mitgesungen hätten", erinnert sich der 27-Jährige. Mit seinem finalen Sprung auf 137,5 Meter verbesserte sich Freund im zweiten Durchgang noch vom fünften auf den ersten Platz im Klassement, drei Punkte oder 1,7 Meter mehr hatte er am Ende als Hayböck, der mit 139 Metern am weitesten gesprungen war.
Vierschanzentournee:Severin Freund: Perfekter Aufwind zum Premierensieg
Beim Auftakt der 64. Vierschanzentournee nutzt der DSV-Springer günstigen Wind. Er gewinnt als erster Deutscher seit 13 Jahren in Oberstdorf.
Der dritte Weltcupsieg in dieser Saison und der 21. in seiner Karriere bedeutet Freund natürlich viel, doch gleichzeitig will er ihn nicht noch zusätzlich mit bedeutungsschweren Sätzen aufladen, weil er weiß, dass noch drei Springen auf dem Programm stehen und er mit seinem Erfolg Begehrlichkeiten geweckt hat bei den Zuschauern. Nach sieben österreichischen Siegern ist die Erwartung vor dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen groß, dass endlich auch mal wieder ein deutscher Springer die Vierschanzentournee gewinnen möge.
Severin Freund scheint das aber nicht sonderlich zu beeindrucken. Die Siege im Gesamt-Weltcup und bei der Weltmeisterschaft im Einzel in der vergangenen Saison haben ihn ohnehin gelassener gemacht, selbstsicherer. "Severin arbeitet seitdem noch zielgerichteter und ist noch motivierter", hat Bundestrainer Schuster festgestellt. Es liegt aber auch an dem Österreicher aus dem Kleinwalsertal, dass die deutschen Springer in Oberstdorf in diesem Jahr positiv auffielen. Neben Freund schaffte es auch noch Richard Freitag (Aue) als Neunter in die Top Ten. Das erfreuliche Abschneiden rundeten Andreas Wank (13.), Stephan Leyhe (14.) und Andreas Wellinger (15.) ab.
Sieger der Vierschanzentournee:Popstars und Supermänner
Die früheren Sieger des traditionsreichen Skisprungvierkampfes waren allesamt wagemutig - manch einer auch abseits des Sports. Von Offizieren, Häftlingen und Maskenträgern.
Sie alle sind für den Aufwand belohnt worden, den Schuster vor dem Winter initiiert hatte. Schuster ist wie Bayern-Trainer Pep Guardiola ein ständiger Grübler, ein Tüftler, der nie zufriedenzustellen ist und der Tag und Nacht an neuen Innovationen arbeitet. Er schickte seine Athleten beispielsweise in den Windkanal eines bayerischen Autobauers. Aber anders als die Konkurrenten im Weltcup nahm er keine Messungen vor, ihn interessierten nicht bestimmte Aufstellwinkel oder Luftwiderstände. Im Versuchslabor ging es ihm um die perfekte aerodynamische Position. "Die Flugqualitäten werden immer wichtiger", erzählt Schuster. Also schickte er Freund und die anderen drei Minuten in die Luft, normalerweise endet ein Flug nach drei bis fünf Sekunden. Schuster nutzte diese wertvolle Zeit, um während der Luftphase die Flugeigenschaften zu korrigieren, Abläufe zu verbessern und zu automatisieren.
Seine Perfektion trieb seine Springer auch im Herbst auf alle vier Schanzen dieser Tournee, innerhalb von sieben Tagen spulten sie das exakte Tourprogramm ab, sie übernachteten in den gleichen Hotels und absolvierten die Trainings- und Wettkampfsprünge, um die Abläufe schon mal durchspielen zu können, die dann bei der Tournee warten. Ein kleinen Haken hatte aber das Simulationsspiel. "Uns ist es leider nicht gelungen, 15 000 Freiwillige an die Schanzen zu bringen, um für Stimmung zu sorgen", sagt Schuster. Doch am Ende ging Severin Freund als Sieger hervor.
Freund freut sich schon auf Garmisch, es ist nicht seine Lieblingsschanze
Sein Trainer hätte nichts dagegen, wenn sein bester Schüler auch noch nach dem vierten Springen in Bischofshofen ganz oben auf dem Treppchen stehen würde. Doch bis dahin kann noch viel passieren. Severin Freund weiß das. Aber er verlässt zumindest mit einem guten Gefühl Oberstdorf in Richtung Garmisch-Partenkirchen. Die Olympiaschanze ist nicht seine Lieblingschanze. "Doch ich werde mich nach dem Erfolg sehr viel leichter tun", sagt Freund. Er ahnt nach dem starken zweiten Sprung, dass etwas "Gutes entstehen kann".
Auch Schuster traut ihm zu, dass er dem großen Favoriten und Gesamtweltcupführenden Peter Prevc "Druck machen kann". Aber nach dem Sieg in Oberstdorf war Severin Freund erst einmal nach Ruhe. Sein Kopfhörer baumelte am späten Abend um seinen Hals. Doch zum Musikhören war er noch nicht gekommen. "Die hängen da nur, damit ich sie nicht vergesse mit ins Hotel zu nehmen."