Süddeutsche Zeitung

Vierschanzentournee:Wer schafft es, ein Flugzeug mit Autopilot zu werden?

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Von Volker Kreisl, Bischofshofen

Neun Tage sind vergangen, auf drei Schanzen wurde gesprungen und der Tross der Athleten, Trainer und Techniker, der Vorspringer, Schanzenarbeiter und Wettkampfwächter ist in Bischofshofen angekommen. Die 68. Vierschanzentournee steuert ihrem Finale am Montagabend entgegen. Wie immer findet das auf der weiten Paul-Außerleitner-Schanze statt. Was jedoch nicht selbstverständlich daher kommt, das ist die besondere Spannung bei diesem Tournee-Finale. Meist bleiben kurz vor Schluss nur zwei Kandidaten für den Gesamtsieg übrig, diesmal sind es vier: Dawid Kubacki, Marius Lindvik, Karl Geiger und Ryoyu Kobayashi. Wie der Wind einen Stapel Papier, so hat der Wettkampf von Innsbruck die Ordnung an der Spitze aufgeschüttelt und die Chancen neu sortiert.

Betrachtet man die Tournee-Rangliste, so hat natürlich Dawid Kubacki die besten Chancen. Der Pole führt sie an, und er ist mit 29 Jahren der Älteste in diesem Quartett. Seine Erfahrung umfasst viele Jahre in Nachwuchsklassements und seit 2009 vorwiegend im Weltcup, wenngleich eher unauffällig. Kubacki musste sich sein Können in diesem nervenaufreibenden Sport langsam erarbeiten. In Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck wirkte er nun wie ein gereifter Champion, der sich von Widrigkeiten herausgefordert fühlt und diese meistern kann. Konkret hat er nun einen Vorsprung von 9,1 Punkten auf den Norweger Marius Lindvik, den Nächstbesten. Das sind immerhin fünf Meter, die beruhigend wirken können. Noch beruhigender dürfte auf Kubacki wirken, dass ihn wie Kamil Stoch 2018 in Bischofshofen wohl eine Menge begeisterter Polen anfeuern und antröten wird. Und nicht zuletzt, dass er dort seit 2019 den Schanzenrekord hält: 145 Meter.

Aber da ist ja noch Lindvik, der Springer aus Raelingen bei Oslo, an den der Pole besser nicht denken sollte. Denn dieser junge Kerl stellt so ziemlich das Gegenteil von Kubacki dar und kann ihn gerade deswegen schlagen. Lindvik ist 21 Jahre jung, und die meisten Trainer raunen gerade Ähnliches, in etwa: "Der Lindvik, der ist ein Naturtalent, das hab' ich schon lange gesehen." Jedenfalls ist er momentan unbekümmert, er fliegt seit Garmisch-Partenkirchen wie auf einer Wolke, die ihm pünktlich unter die Bretter gekommen ist. Denn Fliegen, das scheint seine große Kunst zu sein, und sein Vorteil in der Weite von Bischofshofen. Andererseits ist auch er nicht ohne Sorgen. Lindvik ist noch nie in Bischofshofen gesprungen, und er hat dort genau vier Test-Gelegenheiten, ehe es ernst wird. Er muss unbedingt nach vorne schauen, und dabei idealerweise auch den zweiten Durchgang von Innsbruck aus dem Kopf kriegen.

Denn da hatten sich wieder Chancen für die Verfolger eröffnet, weil weder der Norweger noch der Pole ins Fliegen kamen. Beide hatten diesmal ordentlich Rückenwind und erreichten nur knapp die grüne Linie. Sie blieben zwar vorne, aber nur dank ihres Vorsprunges aus dem ersten Lauf. Verpasst war die große Chance, allen davon zu fliegen. "Mein zweiter Sprung hätte viel besser sein können", sagte Kubacki. Geiger und Kobayashi, auf die bis eine Stunde zuvor noch alles hinauszulaufen schien, die dann plötzlich so gut wie aus dem Rennen waren, hatten auf einmal wieder Anschluss. Siebeneinhalb Meter sind sie noch entfernt.

Karl Geiger, 26 und aus Oberstdorf im Oberallgäu, ist aktuell WM-Zweiter und zweimaliger Weltmeister. Kobayashi, 23 und aus Sapporo in Nordjapan, ist Tournee-Titelverteidiger - per Grand Slam - und der erste nichteuropäische Weltcup-Gesamtsieger im Skispringen. Und beide haben die solidere Grundform: Zwei Monate lang waren sie zuletzt stabil, vor allem Geiger. Er stand von Anfang an in den Top Ten - und blieb dort. Lindvik dagegen hat sich erst spät gesteigert, und Kubackis Formkurve ist so gezackt wie der Alpenhauptkamm - noch in Engelberg/Schweiz, bei der Generalprobe der Tournee, verpasste er das Finale.

Es kommt wahrscheinlich auf die inneren Tugenden an

In Bischofshofen werden nun die üblichen Parameter dieses Sports zählen: Fitness, Absprungtechnik und der Übergang in die Flugphase. Weiter das Fluggefühl - die Fähigkeit, ein Flugzeug zu werden, also sich von der Luft effektiv anströmen zu lassen, und schließlich die Landung, punktgenau, mit Leichtigkeit in den Schnee gesetzt, ohne Wackler. Dies beherrschen zweifellos alle vier - mit unterschiedlicher Betonung. Es kommt somit wahrscheinlich auf die inneren Tugenden an, auf die Fähigkeit, ein Flugzeug mit Autopilot zu werden. Also nicht zu viel zu steuern, sondern es passieren zu lassen, wie die Skispringer sagen.

Kubacki könnte diese innere Ruhe über seine Erfahrung und seinen Vorsprung erreichen, Lindvik darüber, dass er schon jetzt alles erreicht und nichts mehr zu verlieren hat. Geiger darüber, dass er sich in Innsbruck mit einem guten zweiten Sprung selbst zurückgekämpft hat. Und Kobayashi damit, dass er dank seiner Fähigkeiten doch meistens eine Antwort gefunden hat.

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