Vielseitigkeit:Wie ein Ehepaar

AVENCHES - FEI Eventing European Championship 2021

Zurück unter den Buschreitern: Ingrid Klimke auf Hale Bob.

(Foto: Stefan Lafrentz/Stefan Lafrentz)

Mit ihrem Beitrag zu Teamsilber bei der Vielseitigkeits-EM zeigt Ingrid Klimke, dass sie ihre schwere Verletzung überwunden hat. Was sie gesund gemacht hat? Der Gedanke, wieder auf Hale Bob zu reiten

Von Gabriele Pochhamer

"Die Stange hätte genauso gut liegen bleiben können", sagte Ingrid Klimke. Aber sie löste sich aus der Halterung und rollte unerbittlich zu Boden - am drittletzten Sprung, nur zwei Hindernisse von der sicheren Silbermedaille und dem da noch möglichen dritten EM-Titel entfernt.

Der Abwurf des 17-jährigen Hale Bob im abschließenden Springen kostete vier Punkte und warf Klimke mit 25,40 Minuspunkten von zweiten auf den fünften Rang zurück. Die Silbermedaille für die deutsche Mannschaft war durch Klimkes Missgeschick ungefährdet. Das Team aus Klimke, Michael Jung mit Wild Wave (23,9, Platz 4.), Anna Siemer mit Avondale (37,10, Platz 17) und Streichresultat Andreas Dibowski (40,80, 22.) reihte sich mit 86,4 Punkten hinter den Briten (73,1) und vor den Schweden (113,9) ein. Alle drei Einzelmedaillen gingen nach Großbritannien. Neue Europameisterin ist Nicola Wilson mit Dublin (20,9) vor Piggy March auf Brookfield Innocent (23,3) und Sara Bullimore auf Corouet (23,6). "Wir haben die Silbermedaille", sagte Klimke nach dem Abwurf im Springen, "darüber freue ich mich, zum Triple hätte es auch ohne den Fehler nicht gereicht." Sie ist zu lange dabei, um sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen. Und vielleicht weiß sie auch, wie wenig selbstverständlich es ist, dass sie in Avenches gesund und munter auf die Ehrenrunde gehen konnte.

Bei einem Sturz im Frühsommer hatte sie sich gefährliche Verletzungen zugezogen

Es hätte nämlich auch alles ganz anders kommen können am 27. Mai diesen Jahres in Babarowko . "20 Prozent überleben diese Verletzung nicht," sagt Ingrid Klimke. Bei einem Sturz mit ihrer jungen Stute Cascamara wurde ihr linkes Schlüsselbein nach innen gedrückt und blockierte Luftröhre, Speiseröhre und Stimmbänder. Es tat höllisch weh. "Ich wusste gleich, es war eine innere Verletzung, man sah ja nichts, weil ich nicht blutete. Es war schon heftig." Mitsamt ihren Pferden wurde sie mit dem Lkw sofort Richtung Heimat verfrachtet, dort wartete schon das OP-Team in Münster, das von Polen aus vom Mannschaftsarzt informiert worden war. Die Stute hatte ihre Reiterin überrollt, genau das, was alle Buschreiter am meisten fürchten. Insofern hatte Ingrid Klimke sogar noch Glück gehabt. Aber selbst in diesem Moment und auch in den mühsamen acht Wochen danach habe sie keine Sekunde darüber nachgedacht, ob sie weiter Vielseitigkeit reiten würde, die härteste und riskanteste Pferdesportdisziplin. "Reiten ist mein Lebensinhalt", sagt die 53-Jährige "Das ist genau das, was ich machen will." Sie fieberte dem Moment entgegen, in dem sie wieder im Sattel sitzen konnte. "Und von da ab ging es mir sofort besser."

Ein offizielles Traineramt lockt sie nicht, aber die Ausbildung ihrer jungen Pferde und ihrer Schüler macht ihr Spaß. Kaum einer hat das klassische Reitsystem so verinnerlicht wie Ingrid Klimke. Sie schreibt Bücher, produziert Videos, gibt Seminare - aber am liebsten setzt sie sich aufs Pferd und reitet los. Vielleicht kann man gar nicht anders sein, wenn man mit solchen Genen auf die Welt gekommen ist. Der Vater Reiner Klimke, sechsfacher Dressurolympiasieger, ritt 1960 in Rom olympisch durch den Busch. Er hätte es lieber gesehen, wenn seine Tochter auf dem Dressurviereck geblieben wäre. Aber er hatte nicht mit Ingrids Hartnäckigkeit gerechnet, sie wollte in den Busch. Im Dressurviereck ist sie übrigens auch erfolgreich, stand mit Franziskus auf der Longlist für die EM. Ingrid Klimkes Mutter Ruth und Bruder Michael waren erfolgreiche Dressurreiter und auch Ingrids Töchter sind schon gut dabei, Greta reitet erfolgreich Dressur und Vielseitigkeit, die elfjährige Philippa ist noch im Ponyalter. Am Klimke-Clan kommt im Pferdesport niemand vorbei.

Nach dem guten Belastungstest in Avenches kann Hale Bob noch nicht in den Ruhestand

Die Olympischen Spiele im Juli kamen für die Rekonvaleszentin noch zu früh, den Sieg von Julia Krajewski musste Ingrid Klimke sich vom Fernseher aus ansehen, aber für die Europameisterschaft war sie rechtzeitig wieder fit. Nichts tut mehr weh, gelegentlich zwickt es noch und Physiotherapie gehört zum Programm. Die Generalprobe beim CHIO Aachen absolvierte Klimke mit der noch unerfahrenen Stute Siena. Championatspferd Hale Bob war auch dabei, bekam auf den Wiesen der Soers den letzten Schliff für die Europameisterschaft. Seit elf Jahren sitzt Ingrid Klimke im Sattel von Hale Bob. Die beiden kennen sich besser als manches Ehepaar.

Seine 17 Jahre Lügen strafend, galoppierte der fixe kleine Braune nun über das Rennbahngelände von Avenches. Nach diesem Frischetest hat "Bobby" seine Rente noch nicht durch. Die lange Pause durch den Pandemie-bedingten Ausfall vieler Turniere und die Verletzung seiner Reiterin hat ihm nicht geschadet. Eher im Gegenteil. Es sieht so aus, als könne Bobby seine Karriere durch die Zwangspause nun verlängern. "Und nächstes Jahr", sagt Ingrid Klimke, "ist in Italien Weltmeisterschaft. Da wollen wir hin."

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