Süddeutsche Zeitung

Fußball:Der Videobeweis vor Gericht

Lesezeit: 3 min

Von Johannes Aumüller, Frankfurt

Seit Sommer 2017 gehört der Videoassistent zum deutschen Profifußball, und seit Sommer 2017 vergeht kein Wochenende, an dem der Videoassistent nicht irgendwo ein Thema ist. Grundsätzlich stellen ihn nur noch wenige in Frage, doch an fast jedem Spieltag ist jemand verärgert, weil der Videoassistent (VAR) viel zu oft eingreift - oder weil er viel zu selten eingreift. Es gibt keine einheitliche Linie in der Regelinterpretation, und die Kommunikation zum Zuschauer im Stadion hat noch viel Verbesserungspotenzial.

Nun aber erreicht der Unmut über die Technikhilfe nach zweieinhalbjährigem Einsatz eine neue Stufe. Erstmals gibt es wegen des VAR vor dem Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) einen Protest gegen die Wertung eines Spiels. Und somit steckt der deutsche Profifußball in einem Präzedenzfall - auch wenn die Erfolgsaussichten gering sein dürften.

Der Zweitliga-Tabellenletzte SV Wehen Wiesbaden legte nach dem 0:1 bei Dynamo Dresden Protest ein. Die Szene, die die Hessen am vergangenen Freitag erzürnte, war in der Tat kurios. In der 26. Minute, beim Stand von 0:0, griff Dynamo über die rechte Seite an, Alexander Jeremejeff flankte in die Mitte, aber Wehen fing den Ball ab, startete einen Konter und etwa zehn Sekunden später traf Manuel Schäffler ins Tor. Doch der Jubel erstarb. Denn nach dem Hinweis des Videoassistenten gab der Schiedsrichter den Treffer nicht. Der Grund: Bei der Flanke von Jeremejeff hatte der Ball auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes die Torauslinie überschritten. Zehn Sekunden zuvor! Also Abstoß für Wehen anstatt Tor für Wehen.

Hätte der Assistent die Szene zehn Sekunden vor Wehens Tor gar nicht prüfen dürfen?

Eine Viertelstunde später schoss just Jeremejeff Dresdens Siegtor, und nachher war der Ärger groß. "Ein Fußballspiel wird völlig unnötig zerstört", klagte Wehens Trainer Rüdiger Rehm. Zwei Tage später legten die Wehener nach Rücksprache mit ihren Anwälten Protest ein, weil aus ihrer Perspektive die Rücknahme des Tores regelwidrig gewesen sei. Ihre Klage: Sie würden dafür bestraft, dass der Schiedsrichter einen Fehler gemacht hat. Somit geht es rund um das aberkannte Tor nicht mehr nur um den Aspekt, ob dieser Entscheid im Sinne der Video-Unterstützung und der damit angestrebten Gerechtigkeit ist. Sondern auch um sportrechtliche Fragen.

Grundsätzlich ist es nahezu unmöglich, wegen einer Schiedsrichterentscheidung erfolgreich Protest gegen die Wertung eines Spiels einzulegen. Der Fußball kennt in diesem Kontext seit Langem den - bisweilen nicht grundlos schwammigen - Unterschied zwischen der "Tatsachenentscheidung" (Schiedsrichter nimmt eine Szene falsch wahr) und dem "Regelverstoß" (Schiedsrichter handelt statutenwidrig). Im Zweifel kann alles eine Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters ohne sportrechtliche Konsequenzen sein. Aber nur bei einem Regelverstoß ist eine Spielwiederholung möglich, und das kommt sehr selten vor. Das berühmteste Beispiel: Nach dem "Phantomtor" des damaligen FC-Bayern-Spielers Thomas Helmer gegen Nürnberg 1994 setzten die DFB-Juristen eine Wiederholung an - weil sich Schieds- und Linienrichter nicht regelkonform beraten gehabt hatten.

Nun müsste es Wehen also gelingen, einen Regelverstoß nachzuweisen. Im Laufe dieser Woche soll die schriftliche Begründung beim DFB eingehen. Wehens Anwalt Christoph Schickhardt will derzeit nichts sagen. Zu vernehmen ist aber, dass es in der juristischen Argumentation nicht zuletzt auf einen Punkt hinausläuft: dass sich der Videoassistent den Moment, in dem der Ball im Aus war, gemäß VAR-Protokoll gar nicht hätte anschauen dürfen. Dieses Protokoll stammt vom International Football Association Board (Ifab), jenem in Zürich sitzenden Gremium, das für die Fußballregeln zuständig ist. Laut Protokoll soll der Videoassistent bei jedem Tor den kompletten vorausgegangenen Angriffsspielzug checken. Aber bei Wehens Treffer war der Ball eben nicht während des torbringenden Spielzuges im Aus. Sondern am Ende des abgeschlossenen Spielzuges zuvor.

Doch selbst wenn das DFB-Sportgericht einer solchen Argumentation folgen sollte, ist es fraglich, ob der Klub mit seinem Begehr durchkommt. Denn im VAR-Protokoll ist gewissermaßen ein Sicherheitsnetz eingebaut. Demnach wird ein Spiel grundsätzlich auch gewertet, wenn der Videoassistent am Zustandekommen einer falschen Entscheidung beteiligt ist; etwa wenn er eine Szene prüft, die er gar nicht prüfen darf. Mit anderen Worten: Auch bei Beteiligung des Videoassistenten kann ein Fehler des Schiedsrichters schnell als unanfechtbare Tatsachenentscheidung gelten. Die Wehener müssten das Sportgericht also davon überzeugen, dass diese Protokollstelle nicht wirksam ist - und das dürfte sehr schwer sein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4678573
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.11.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.