Victor Estrella bei den US Open:Junge aus dem Dreck

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Victor Estrella, 34, wird gefeiert - wenn auch nur auf den Nebenplätzen. (Foto: Darron Cummings/AP)

Er hat dominikanische Wurzeln und begeistert die Latino-Community in New York: Die Geschichte von Victor Estrella, 34, rührt die Fans bei den US Open. Seinetwegen herrscht auf den Nebenplätzen teils bessere Stimmung als in den großen Stadien.

Von Jürgen Schmieder, New York

Es gibt ein Video von Victor Estrella bei Youtube, das ihn bei einem Turnier in Ecuador vor einem Jahr zeigt. Die Kameraführung ist wackelig, die Anzahl der Zuschauer ist dennoch präzise zu bestimmen - man braucht nicht einmal alle Finger zum Zählen. Am Samstag stand Estrella wieder auf einem Tennisplatz, die Dritt-Runden-Partie gegen Milos Raonic wurde live im amerikanischen Fernsehen übertragen. Zuschauerzahl: mehr als 6000.

Estrella sah immer wieder hinauf zu den Tribünen und grinste, vor allem aber zeigte er erneut eine wunderbare Partie. Er verlor am Ende mit 6:7, 6:7, 5:7 - ein achtbares Ergebnis gegen einen, dem zugetraut wird, in nicht allzu ferner Zukunft die Dominanz der so genannten "großen Vier" (Federer, Nadal, Djokovic, Murray) zu beenden. Als die Partie vorbei war, da erhoben sich die Menschen und klatschten. Estrella warf ein paar Handküsse, schrieb Autogramme. Dann weinte er.

"Victor kommt aus dem Staub"

Estrella war einer der Helden dieser ersten US-Open-Woche. Zunächst besiegte er den Kroaten Igor Sijsling. Auf einem Nebenplatz. Etwa zehn Landsleute waren gekommen, aber sie sorgten für einen Lärm, den ansonsten 100 Menschen nicht hinbekommen. Zuschauer von anderen Plätzen kamen herüber gewandert, weil sie sehen wollten, was denn da los war.

Zwei Tage später dann spielte er erneut. Wieder auf einem Nebenplatz. Diesmal waren ein paar Hundert Dominikaner da - und sie hörten sich an wie ein paar Tausend. Vor allem aber erzählten sie die Geschichte dieses 34 Jahre alten Mannes - mit einem Pathos, der nur bei wahren Geschichten nicht kitschig ist.

"Er kommt von ganz unten, genauso wie ich", sagt Edmundo Santos. Ein lieber Kerl mit prächtiger Glatze, Kopf und Rumpf sind jeweils so breit wie hoch. Geboren in Santiago, aufgewachsen in der Bronx - dort lebt er heute noch und arbeitet als Schulbusfahrer: "Victor kommt aus dem Staub, aus dem Dreck. Was er erreicht hat, ist eine Inspiration für uns alle."

Er berichtet davon, dass Estrella als Kind mit einer Holzplatte auf eine Gummikugel eingedroschen hat und im Tennisclub von Santiago für die reichen Menschen die Bälle aufgesammelt hat. Weil er spielen konnte, durfte er manchmal auf den Platz, wenn die Mitglieder einen Partner suchten. Er bekam kein Geld dafür, aber durfte quasi umsonst trainieren. Mit einem echten Schläger mit Saiten und einem echten Tennisball. "Er hat sich nach oben gearbeitet", sagt Santos.

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Wer als Tennisspieler in der Dominikanischen Republik Talent hat, der will später als Lehrer in einem dieser Clubs arbeiten oder vielleicht sogar über ein Stipendium an einer amerikanischen Universität eine Ausbildung zu bekommen. Estrella wollte lieber Profi werden - ein ungeheuerlicher Gedanke. Er probierte es von 2001 an bei Nachwuchsturnieren, auch dazu gibt es eine rührende Geschichte.

Weil er kein Geld für Saiten hatte, bespannte er seine Schläger für längere Haltbarkeit mit einem Gewicht von gerade einmal 20 Kilo - üblich sind fünf Kilo mehr. Estrella war jedoch nicht erfolgreich, er schaffte es nicht unter die besten 1000 Spieler der Welt. 2005 beendete er seine Karriere. Er siedelte um nach Florida und hielt sich als Tennis-Gelegenheitsarbeiter über Wasser: Berater des Puerto Ricanischen Davis-Cup-Teams, ein paar Amateurturniere in Ecuador.

Nach seinem Sieg im zweiten Spiel sitzt Estrella auf der Terrasse des Arthur Ashe Stadiums. Er wirkt entspannt, fast wie im Urlaub, wäre da nicht die Feuchtigkeit in seinem Gesicht, die sich aus Schweiß und Tränen zusammensetzt. Er bestätigt all die Geschichten, die da über ihn erzählt werden. Er fügt sogar noch einige hinzu - und in diesem Fall ist es der Mangel an Pathos, der bei einem selbst für Feuchtigkeit im Gesicht sorgt. "Es war ganz einfach: Ich musste mindestens ein Spiel gewinnen, damit ich beim nächsten Turnier dabei sein konnte.", sagt er.

Er berichtet, wie er es doch noch einmal als Profi probieren wollte. Wie er mit der Billigbuslinie Greyhound durch die Vereinigten Staaten tingelte und nach Übernachtungsmöglichkeiten bei Bekannten von Bekannten suchte, um kein Geld für ein Hotel ausgeben zu müssen. Bei einer frühen Niederlage musste er - im Greyhound-Bus - nach Hause und so lange sparen, bis er sich wieder eine Reise leisten konnte. Es funktionierte einigermaßen, jahrelang dümpelte er zwischen Platz 200 und 400 der Weltrangliste.

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Von Jürgen Schmieder

Plötzlich unter den 100 besten Spielern der Welt

Zu Beginn dieses Jahres dann hatte er plötzlich einen Lauf bei Challenger-Turnieren, durch die 1400 Dollar Preisgeld in Cincinnati konnte er sich weitere Reisen leisten: Halbfinale in Texas, Finale im mexikanischen Morelas, Sieg im ecuadorianischen Salinas.

Plötzlich gehörte er zu den besten 100 Spielern der Welt und war für die Grand-Slam-Turniere qualifiziert. Zum ersten Mal in seinem Leben. "Das war der beste Moment in meinem Leben - bis jetzt", sagt Estrella. Bei den French Open und in Wimbledon scheiterte er in der ersten Runde, bei den US Open gewann er die ersten beiden Spiele.

"Es ist unglaublich, was gerade passiert, das war die schönste Woche. Aber ich werde mich nicht verändern, mein Leben bleibt gleich", sagt er. Das ist natürlich gelogen. Von 2001 bis 2013 hat er insgesamt 280.000 US-Dollar an Preisgeld eingenommen, also ein bisschen mehr als 20.000 Dollar pro Jahr. In diesem Jahr hat er bereits 200.000 Dollar verdient, durch die US Open kommen nochmals mehr als 100.000 Dollar dazu.

"Aber ich muss erst mal Steuern bezahlen", sagt Estrella. Er kann es sich nun immerhin leisten, regelmäßig zu Turnieren zu fahren und auch nicht mehr mit dem Bus reisen zu müssen: "Dafür verwende ich das Geld nun: Um mehr ATP-Turniere spielen zu können und auch dorthin zu kommen." Er dürfte in der Weltrangliste so weit nach vorne rücken, um auch im kommenden Jahr zu jedem Grand-Slam-Turnier eingeladen zu werden.

Auch nach der Partie gegen Raonic sitzt er wieder auf der Terrasse, er wirkt erschöpft. Müde. Ausgelaugt. "Nicht körperlich, eher emotional", sagt er. Es war dann doch ein bisschen viel in den vergangenen Tagen. Er lacht jedoch. Er weiß, dass ihm da im Alter von 34 Jahren eine wunderbare Sache passiert ist. "Ich bin nicht böse, dass es erst jetzt passiert ist und nicht schon früher", sagt er: "Jetzt ist jetzt - und jetzt ist großartig. Ich bin ich ein glücklicher Mensch."

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