Süddeutsche Zeitung

VfL Bochum:Als sei er Messi

Aufsteiger VfL Bochum überrascht mit einem 2:0-Heimerfolg gegen den FSV Mainz - Gerrit Holtmann gelingt dabei ein spektakuläres Tor.

Von Ulrich Hartmann, Bochum

Der vormals letzte Bochumer Bundesliga-Treffer im heimischen Ruhrstadion war eher profaner Art gewesen. Zlatko Dedic hatte aus 20 Metern zum zwischenzeitlichen 1:1 ins Tor des Hamburger SV getroffen. Dessen Torwart hieß damals Frank Rost, einer der Abwehrspieler war Dennis Aogo, einer der Hamburger Stürmer Ruud van Nistelrooy. Es war der 11. April 2010. Der VfL Bochum verlor noch 1:2, stieg einen Monat später ab und verblieb dann elf Spielzeiten in der zweiten Liga.

Elf Jahre, vier Monate und zehn Tage später erzielte der VfL am Samstag um 15.50 Uhr erstmals wieder einen Bundesligatreffer im heimischen Ruhrstadion, in der Partie gegen den FSV Mainz 05. Und was für einen! Es war eines der spektakulärsten Tore in der Geschichte des Vereins und ein mehr als würdiges für das erste Heimtor in der Bundesliga nach fast elfeinhalb Jahren. "Herzlichen Glückwunsch zum Tor des Jahres!", schrie der Stadionsprecher in sein Mikrofon. Die "Sportschau" zeigte am Abend den freundlichen Tweet eines Zuschauers, wonach man sich die Wahl zum "Tor des Monats" diesmal sparen könne.

Vom Torschützen Gerrit Holtmann war hinterher zu hören, dass er schlichtweg Angst gehabt hatte, früher zu schießen. Er war in der 21. Minute samt Ball von der Mittellinie linkerhand bis vors Mainzer Tor rechterhand ungefähr 50 Meter weit Slalom gelaufen und hatte dabei Gegenspieler namens Silvan Widmer, Leandro Barreiro, Niklas Tauer, Alexander Hack und Aaron Martin umdribbelt. Als er sich dem Tor näherte, hätte er im Strafraum mit seinem rechten Fuß bereits früher einen Schussversuch wagen können. "Schieß, schieß, schieß!", habe man auf der Bank gedacht, berichtete später der VfL-Trainer Thomas Reis.

Aber Holtmann sagte, er vertraue seinem rechten Fuß nicht so uneingeschränkt. Also lief er weiter, legte sich den Ball zurecht, tunnelte mit dem linken Fuß den Mainzer Torwart Robin Zentner zum 1:0 und löste in der 370 000-Einwohner-Stadt Bochum im Herzen des Ruhrgebiets Fußballgefühle aus, die man dort lange nicht mehr verspürt hatte. Es muss ungefähr so gewesen sein, als fände ein Rentner auf dem Dachboden zufällig das heißgeliebte Spielzeug aus der Kindheit wieder.

Frech singen die Fans gar: "Die Nummer eins im Pott sind wir."

Nachdem der VfL-Zugang Sebastian Polter in der 56. Minute das 2:0 erzielt und maue Mainzer damit endgültig demoralisiert hatte, war Bochums erster Bundesligasieg seit dem 13. Februar 2010 perfekt. "So was hat man lange nicht gesehen", sangen die 12 548 weitgehend dem VfL zugewandten Zuschauer und hatten damit deutlich mehr Recht als viele Fußballfans, die den Gassenhauer oft recht unbedacht anstimmen.

Nach einer Bochumer 0:1-Niederlage zum Saisonauftakt in Wolfsburg und einem Mainzer 1:0-Sieg gegen Leipzig hatte man sich für die Partie am Samstag eigentlich eine andere Rollenverteilung vorgestellt. Dies fand auch der Mainzer Sportdirektor Martin Schmidt, der von vertauschten Rollen sprach. Bochum erteilte seltsam phlegmatischen Rheinhessen eine Lektion in Sachen Leidenschaft und Temperament. Diesen Faden nahm der Trainer Reis spät in der Nacht gerne noch einmal auf, als er im "Sportstudio" darlegte, dass ein Klub wie der VfL überhaupt nur auf diese Weise den Klassenerhalt in der Bundesliga schaffen könne. Anschließend würdigte Reis die vorangegangene Leistung seiner Mannschaft auch dadurch, dass er sein Duell an der legendären Torwand ebenfalls 2:0 gewann.

Musikalische Grüße hatten die leidgeprüften Bochumer Fans während des Spiels am Samstag nach Gelsenkirchen geschickt, wo der FC Schalke 04 nach seiner 1:4-Niederlage in Regensburg derzeit gen Abstiegszone der zweiten Liga schlittert. Dieses glitschige Terroir kennen die Bochumer nur zu gut, so dürfte ihr Gesang "Schalke, Schalke, zweite Liga" gewiss auch mitleidvollen Charakter besessen haben. Als die Kunde von Borussia Dortmunds 0:2-Rückstand in Freiburg kam, behaupteten die singenden Fans gar: "Die Nummer eins im Pott sind wir." Dies erwies sich nach tabellarischer Lesart jedoch als Fake News - noch.

Laufwunder Holtmann, dessen Solo zurecht als Lionel-Messi-Hommage interpretiert wurde, ist in seiner Zeit beim SC Paderborn in einem 30-Meter-Sprint mal unter vier Sekunden gestoppt worden. Der 26 Jahre alte Bremer hat als Sohn einer philippinischen Mutter eine Einladung vom philippinischen Fußballverband vorliegen. Er hat nach einst fünf Berufungen ins deutsche U20-Junioren-Nationalteam bis jetzt aber noch kein Spiel für die Nummer 128 der Fußball-Weltrangliste absolviert. In diesem Sommer scheiterte sein erster Einsatz für die Philippinen an der Corona-Blase im Mai. Interessant ist nun, ob nicht auch Hansi Flick auf Holtmann aufmerksam geworden sein könnte. Sein Solo müsste dem neuen Bundestrainer auf seiner Suche nach belebenden Individualisten gefallen haben. Bislang letzter deutscher A-Nationalspieler des VfL Bochum war im Jahr 2004 ein gewisser Paul Freier.

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