Als Angelo Stiller nach dem Spiel vors Mikrofon gebeten wurde, sagte er einen Satz, den er in seiner Karriere als Fußballprofi vermutlich schon häufiger gesagt hat. Angesprochen auf die Dimension des soeben erzielten Ergebnisses, meinte er, er könne dazu leider nicht so viel sagen. Er wisse ja nicht, „wie die anderen gespielt haben“.
Diesen Satz sagen meistens Fußballer, deren Mannschaften in den Kampf um die Meisterschaft oder gegen den Abstieg verwickelt sind und die unmittelbar nach Spielschluss noch keine Kenntnis von den Ergebnissen aus Dortmund, Leipzig, Bochum oder St. Pauli haben. Insofern trug Stillers Satz eine gewisse Komik in sich. Hätte man ihn am Mittwochabend nach dem 5:1-Sieg des VfB Stuttgart gegen YB Bern zurückgefragt, wen er denn mit „die anderen“ meine – er hätte keine präzise Antwort geben können.
Müssen die Stuttgarter – die in der elend langen Champions-League-Tabelle Sechsundzwanzigster sind und zum Weiterkommen mindestens Vierundzwanzigster werden müssen – nur auf die direkt vor ihnen platzierten Zagreb und Eindhoven achten, oder lohnt sich auch ein Blick auf die beiden Lissabons im Ligamittelfeld? Darf man es wagen, von einem Überholvorgang beim großen Manchester City zu träumen oder zumindest bei den schon auch recht großen Franzosen von Paris Saint-Germain, die Fünfundzwanzigster sind und noch beim VfB antreten müssen? Immerhin müssen die Stuttgarter kaum mehr nach hinten schauen, die Punktausbeute der Teams ab Platz 27 ist wohl zu gering. Somit hat der Champions-League-Neuling aus Stuttgart ein Zehnerfeld bereits solide hinter sich gelassen und beschließt die Gruppe derer, die es noch in die Playoffs schaffen können. Der VfB ist Letzter bei den Besten.
Es sind Debatten wie diese, die Befürworter und Gegner des neuen Reglements gleichermaßen für sich vereinnahmen. Befürworter des Formats können behaupten, dass die Uefa ihr zentrales Transformationsversprechen Mehr Spannung bis zum letzten Spieltag im Januar! offenkundig eingelöst habe, zumal die von einem Computer vorab berechnete Anzahl von zehn Punkten vielleicht doch nicht für die Playoffs reicht. Die Gegner des Formats würden einwenden, dass vollständige Unübersichtlichkeit bitte nicht mit Spannung zu verwechseln sei. Und was sei spannend daran, wenn zehn von 36 Teams bereits vor Weihnachten abgehängt sind?
Ein Sieg, aber wieder mal nach Rückstand: Der VfB hat ein anstrengendes Muster entwickelt
Beim VfB sehen sie verständlicherweise von Grundsatzdebatten ab. In diesem turbulenten europäischen Hin und Her versuchen die Stuttgarter einfach weiterhin, ihre eigene Geschichte zu erzählen – die Geschichte eines Overperformers, der ständig darauf achten muss, dass ihm im anstrengenden Dauerfußballmodus nicht die Spielfreude abhandenkommt. So hat diese tapfere Mannschaft inzwischen ein Muster entwickelt, das die Anstrengungen ohne Not erhöht: Der VfB hat sich angewöhnt, grundlos freudlos in seine Partien zu starten, um sie dann mit erheblichem Kraftaufwand auszugleichen oder gar umzudrehen – wie zuletzt in Bremen (2:2 nach zwei Rückständen), gegen Union Berlin (3:2 nach 0:2) und nun gegen Bern, als ein 0:1-Rückstand (6.) den VfB daran hinderte, seine Überlegenheit früher nutzbar zu machen. Neben dem Ausgleich durch den wie immer herausragenden Stiller (25.) bedurfte es dabei eines umstrittenen Führungstreffers zum 2:1 (Millot, 53.), bei dem der VAR offenbar die juristische Sonderregel „Im Zweifel für den Ball“ bemühte; ob der bei Fabian Rieders Vorlage die Torauslinie wirklich noch berührt oder sie doch schon überschritten hatte, war zumindest keinem Fernsehbild seriös zu entnehmen. Am Ende galt das Urteil von Schiedsrichter Kruashvili, der die zunächst erhobene und dann wieder gesenkte Fahne seines Assistenten kraft Amtes überstimmte.
Zum Stuttgarter Spielmuster dieser Tage gehört auch, sich am Ende in einen Zustand hineinzuspielen, der zumindest szenenweise an den Rausch der Vorsaison erinnert. Führich (61.), Vagnoman (66.) und Keitel (76.) erhöhten dank unterstützender Passivität der Berner auf 5:1, was nichts an der unheimlichen Herausforderung ändert, die dem VfB vor Weihnachten noch bevorsteht. Nach dem Spiel in Heidenheim am Sonntag haben sie eine ganze Woche Zeit bis zum Jahresabschluss gegen St. Pauli – kein Spiel am Dienstag, keines am Mittwoch. Nicht, dass ihnen plötzlich langweilig wird.