VfB Stuttgart verpflichtet Camoranesi:Ein Mann mit Stacheln

Er flucht gerne mehrsprachig und erfüllt das komplette Anforderungsprofil an einen typischen italienischen Mittelfeldspieler: Mauro Camoranesi soll den schwach gestarteten VfB Stuttgart stabilisieren.

Birgit Schönau

Sein künftiger Trainer Christian Gross vom VfB Stuttgart hält ihn für eine "große Spielerpersönlichkeit". Das klingt freundlich übertrieben wie wohlwollend euphemistisch. Denn Mauro German Camoranesi, der im Oktober 34 Jahre alt wird, scheint die Zeiten hinter sich zu haben, in denen er als nimmermüder Mittelfeld-Haudege ein Spiel wenden oder zumindest seiner Mannschaft den Rhythmus diktieren konnte. Er ist langsamer geworden, fahriger, geschwächt durch eine Reihe von Verletzungen. Bei der WM in Südafrika wie in der Serie A wirkte Camoranesi zuletzt beunruhigend erloschen, ja resigniert.

Es ist bezeichnend, dass der Italo-Argentinier als Helfer in der Not beim Tabellenletzten VfB Stuttgart an diesem Dienstag zur sportärztlichen Untersuchung erwartet wird, während sein langjähriger Arbeitgeber Juventus Turin zwar gerade die demütigende Qualifikation für die Europa League geschafft hat, mit einem 0:1 gegen Bari aber bereits einen Fehlstart in die neue Saison hinnehmen musste. Ohne Camoranesi. Denn für den neuen, autoritär-rustikalen Turiner Chefcoach Luigi Delneri hat der Mann mit dem Inka-Gesicht eindeutig zu viel Persönlichkeit. Delneri ist zwar auch Tabellenletzter, aber er will auf Camoranesi lieber verzichten - genau wie Italiens neuer Nationaltrainer Cesare Prandelli.

Niemals leise treten

Dabei waren Juve und Squadra Azzurra lange derart abhängig von Camoranesi, dass die Trainer seine dunklen Seiten geflissentlich übersahen: Camoranesi gilt als "spigoloso", so nennt man in Italien einen Mann mit Kanten, mit einem "stacheligen" Charakter. Er kann mehrsprachig fluchen, sehr eindeutig gestikulieren und verbucht in seinem Lebenslauf eine rekordverdächtige Zehntagessperre, weil er mit sehr entschlossener Miene dem Schiedsrichter auf den Fuß gestiegen war. Wenn er befragt wird (was eher selten geschieht), kann Mauro Camoranesi Sätze wie in Marmor gemeißelt von sich geben, zum Beispiel diesen: "Michel Platini war gerade gut genug, Maradona die Tasche zu tragen." Platini gilt bis heute als bester Juve-Spieler, dass er amtierender Präsident des europäischen Fußball-Verbandes Uefa ist, interessiert Camoranesi sowieso nicht.

Spieler wie er sind selten bei Juventus, erst recht in der Nationalmannschaft. Spieler, die niemals leise treten, die niemandem Rabatt gewähren und die sich das leisten können, weil sie überragend gut sind und deshalb unersetzlich. Über Jahre war Camoranesi der Beste in seinem Fach, er zeigte im rechten Mittelfeld das ganze Programm und noch ein bisschen mehr. Feinzirkeln und Dribbeln, minuziös genau zuspielen und in der Not auch mal Rüpeln und Treten. Camoranesi war sozusagen die evolutionäre Weiterentwicklung von Mittelfeldterriern wie Gennaro Gattuso, noch weit entfernt von der filigranen Melancholie eines Andrea Pirlo, aber dem groben Planierraupenfußball der alten italienischen Defensivschule bereits entwachsen.

Mit Gattuso und Pirlo im Team wurde der gebürtige Argentinier Weltmeister, als erster "oriundo" (Südamerikaner italienischer Abstammung) seit 1938. Bei Juventus reihte sich Camoranesi unter "oriundo"-Mythen wie Raimundo Orsi und Luis Monti ein, Letzterer ist bis heute der einzige Spieler, der mit zwei Ländern (Argentinien und Italien) ein WM-Finale erreichte. Und wie jene "Vorfahren", die im Mussolini-Italien als suspekt galten, wurde Camoranesi ein Politikum, als ihn Giovanni Trapattoni 2003 erstmals in die Nationalelf berief. Er hat seine Kritiker in 55 Einsätzen zum Schweigen gebracht, zum Schluss nahm Italien es sogar hin, dass der Argentinier mit einem Urgroßvater aus den Marken als Einziger nie die Nationalhymne sang. "Ich würde ja mitsingen aber ich kann den Text nicht", erklärte Camoranesi.

Mit Juve in Liga zwei

Nach der WM-Siegerehrung in Berlin 2006 ließ er sich noch auf dem Spielfeld vom Kollegen Massimo Oddo den Haarzopf abschneiden. Es ging aber gleich nach den Freudentänzen in Deutschland zu Hause mit Juventus in die zweite Liga - Zwangsabstieg infolge des Manipulationsskandals durch das alte Juve-Management. "So habe ich mir das nicht vorgestellt: als Weltmeister in die Serie B", klagte Camoranesi, um mit in der ihm eigenen grimmigen Ironie hinzuzufügen: "Na ja, wenigstens haben wir jetzt sonntags frei." Zweitligisten spielen am Samstag. Unten in der Serie B hatte der Weltmeister aus Argentinien endlich Zeit, den Motorradführerschein zu machen.

Aber Camoranesi wollte weg von Juventus. Frankreich, England, Spanien, egal. Nach dem Wiederaufstieg in die Serie A schien er wieder motiviert zu sein, in der taktischen Juve-Konfusion der vergangenen Saison verlor er selten den Überblick, verzichtete aber auf technische Finessen. Camoranesi, der in Turin Wurzeln geschlagen zu haben schien, packt die Koffer. "Ich reise nicht gern", hat er einst gesagt. Nach Stuttgart ist es auch nicht ganz so weit.

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