Süddeutsche Zeitung

Relegation:Stuttgart am Abgrund

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Von Christof Kneer, Stuttgart

Ja, Stuttgart, so war das mal, vor ein paar Jahren noch. Ein Abend unter der Woche, die halbe Stadt weiß-rot, das Stadion voll, und der Gegner: nein, leider nicht mehr aus England, Spanien oder zumindest Dänemark. Der Gegner kam zwar aus einer europäischen Hauptstadt an diesem Abend, aber er kam eben auch aus der zweiten Liga. Was sich nach Europacup anfühlte, war in Wahrheit der schlimmste Feiertag, den sich ein Erstligist ausmalen kann: Relegation ist ein anderes Wort für Folter.

Der Erstliga-Sechzehnte spielte gegen den Zweitliga-Dritten um den letztverbliebenen Platz in der Bundesliga, der Favorit kann viel verlieren, der Außenseiter viel gewinnen - immerhin lässt die Statistik die Folter etwas weniger grausam erscheinen. Seit die Relegation im Jahr 2009 wieder eingeführt wurde, hat sich nur zweimal der Zweitligist durchgesetzt. Gut möglich allerdings, dass es nun zum dritten Mal passiert: Union Berlin ertrotzte bei einem defensiv unkonzentrierten VfB Stuttgart ein 2:2 (1:1) - eine gute Ausgangsposition fürs Rückspiel am Montag in Berlin.

"Das haben wir uns sicherlich anders vorgestellt", sagte Stuttgarts Trainer Nico Willig. Trotzdem sei "erst Halbzeit. Wir müssen am Montag in Berlin einfach gewinnen." Tatsächlich waren die VfB-Anhänger wild entschlossen, wenigstens ein Europacuple aus diesem Abend zu machen, sie empfingen ihr Team mit rührendem Enthusiasmus - es war jenes Team, das ihnen seit Saisonbeginn mit stabiler Verlässlichkeit die Wochenenden versaut. Dennoch zogen Stadt und Team zuversichtlich in diesen Folterabend, unter Interimscoach Nico Willig hatte sich zuletzt ein deutlicher Aufwärtstrend bemerkbar gemacht hat.

Gomez läuft los, schießt und trifft

Der Trend hatte es aber von Beginn an schwer, sich gegen die Nervosität durchzusetzen. Trainer Willig hatte Mario Gomez wie erwartet auf der Bank gelassen, aber dennoch offensiv aufgestellt, Unions Trainer Urs Fischer hatte sich wie ebenfalls erwartet für eine defensivere Variante entschieden, mit nur einem seiner beiden langen Mittelstürmer (Sebastian Andersson statt Sebastian Polter).

Man müsse Geduld haben, hatte VfB-Trainer Willig verfügt und immer wieder darauf verwiesen, dass man 180 Minuten zur Verfügung habe, nicht nur 90. Er wollte seinen Spielern den Druck nehmen, er wollte verhindern, dass sie kopflos drauflos stürmen. Auf eine Art war ihm das gelungen: Kopflos stürmten sie nicht, sie stürmten erstmal überhaupt nicht. Erkennbar war, dass beim Erstligisten die versierteren Spieler spielen, erkennbar war aber auch, wie sich diese Spieler immer wieder selbst im Weg standen. Spielmacher Daniel Didavi suchte vergebens Raum für seine Pässe, Angreifer Anastasios Donis suchte den Raum für seine Sprints, aber sie wurden kaum fündig, weil die Berliner allen nochmal die Zweitligatabelle erklärten. Die weist Union als Team mit den wenigsten Gegentoren (33) aus, was nicht nur an einer seriösen Abwehr liegt - sondern auch an einem Mittelfeld, das humorlos die Räume versperrt.

Aber Tendenzen hatten keine lange Haltbarkeit in diesem Spiel. Als die Berliner mit ihrer unbequemen Art gerade dabei waren, das Stadion leiser zu stellen, besorgte sich Stuttgarts seit Wochen gefährlichster Spieler seinen Raum eben selbst: Donis sprintete in der eigenen Hälfte los, überlief die halbe Hauptstadt und blieb am Ende cool genug, Kapitän Christian Gentner anzuvisieren, der den Ball zum 1:0 ins Tor grätschte (42.). Stuttgart machte nun Lärm wie mehrere europäische Hauptstädte zusammen, das Spiel war nun auf dem Weg zu einer wirklich guten Geschichte: Gentner, ein echter VfBler, der alle Höhen und Tiefen kennt - über mehr konnte man aber nicht nachdenken, 87 Sekunden später stand es schon 1:1. Ein groteskes Tor: Vom Anstoß schlugen die Berliner den Ball nach vorn, Andersson verlängerte per Kopf, Abdullahi drehte sich um Insua und traf.

Der Trend hielt eine Halbzeitpause lang. Gomez kam für Didavi, und nach ein paar Minuten hatte das Spiel schon wieder Lust auf eine gute Geschichte. Gomez - ein echter VfBler, der alle Höhen und Tiefen kennt - lief los, er lief und lief und schoss; abgefälscht von Verteidiger Friedrich landete der Ball zum 2:1 im Tor (51.). 15 Minuten später die nächste Trendumkehr: Ebendieser Friedrich köpfte nach einer Ecke das 2:2 - wieder ein viel zu einfacher Gegentreffer, der stellvertretend steht für die Saison des VfB, die bald übel enden könnte.

Bei Union war die Stimmung entsprechend gut. "Wir haben ein sehr, sehr gutes Ergebnis", erklärte Kapitän Christopher Trimmel in Vorfreude aufs Rückspiel: "Die Chance ist definitiv da, wir haben ein Heimspiel, das Stadion wird beben." Gomez entgegnete kühl: "Am Montag werden wir zurückschlagen."

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SZ vom 24.05.2019
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