VfB Stuttgart:Onkel Gonzo, bitte ins Bällebad kommen!

05.09.2020, Deutschland, Stuttgart, Fußball, VfB Stuttgart vs. Racing Straßburg , Gonzalo Castro ( vfB ) *** 05 09 2020

Wegweiser des VfB Stuttgart: Routinier Gonzalo Castro, 33.

(Foto: Hansjürgen Britsch/imago)

Ein ungewöhnlicher Aufsteiger mit einem ungewöhnlichen Kapitän: Gonzalo Castro führt den VfB zurück in die erste Liga.

Von Christof Kneer

Lauf' einfach mal los, man weiß ja nie, dachte Gonzalo Castro und setzte sich an der Mittellinie in Bewegung. Außer Castro liefen auch noch Nicolas Gonzalez sowie die Nachspielzeit, 2:2 stand's im Zweitliga-Topspiel gegen HSV. Weit draußen am Flügel lief dieser Gonzalez, weit entfernt von allen gefährlichen Zonen, aber Castro ist schon so lange dabei, er hat schon so viel erlebt, einer wie er hält alles für möglich. "Bei Nico geht man immer davon aus, dass er durchkommen kann", sagt Castro am Mittwoch mit dem stillen Amüsement eines Mannes, der die Pointe schon kennt. Die Pointe: Gonzalez kam tatsächlich durch und legte den Ball nach innen, wo ein verdutzter HSV-Verteidiger plötzlich von dem Mann überholt wurde, der alles für möglich hält. Der alte Castro war schneller als der junge Hamburger und lenkte den Ball ins Tor: Es war das 3:2 für den VfB Stuttgart, es war das Tor zum Aufstieg.

Wahrscheinlich ist es also nur gerecht, dass Castro den VfB jetzt als Kapitän in die erste Liga führt. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist es aber eine Überraschung.

Castro, 33, war selber verblüfft, als ihm Trainer Pellegrino Matarazzo kürzlich das Kapitänspatent überreichte. Von Castro ist vieles bekannt; dass er ein leiser, aber allerfeinster Fußballer ist, ein in den kleinsten Räumen heimischer Techniker, dem Xavi und Messi anerkennend die Hand schütteln, wenn sie mit Barcelona gerade Leverkusen 7:1 besiegt haben. Aber dass er ein Führungsspieler ist, einer, der Kollegen mitreißt und anzündet? Das war bisher unbekannt, im Grunde auch ihm selbst.

"Es freut mich, dass der Trainer auf meine Meinung baut", sagt Castro, "ich spiele ja schon ein paar Jahre Fußball, von daher weiß der Trainer sicher, dass ich ein ganz gutes Feedback geben kann." Niemand erwarte, "dass ich mich plötzlich verändere, dass ich laut werde oder rumbrülle. Ich werde weiter versuchen, dem Team zu helfen, indem ich viele Dinge fußballerisch löse".

Der VfB Stuttgart ist das, was man einen Traditionsverein nennt, aber jener VfB, der nun in die erste Liga zurückkehrt, ist neu. Dieser VfB ist ein spannendes Experiment, so wie Castro als Kapitän ein spannendes Experiment ist. Der VfB ist eine ungewöhnliche Elf mit einem ungewöhnlichen Kapitän, was direkt miteinander zusammen hängt: Weil die Elf so jung und auf diesem Niveau unerfahren ist, kann der Kapitän eigentlich gar kein anderer sein als der, der 383 Bundesliga-Spiele bestritten hat - und im Januar 2005 erstmals in der Liga auftauchte. Kleine Zeitreise: Sein Trainer in Leverkusen war damals Klaus Augenthaler, seine Mitspieler hießen Carsten Ramelow, Jens Nowotny und Bernd Schneider.

"Als ich Profi wurde, war die Kaderstruktur ja noch umgekehrt", sagt er, "es gab zwei, drei Junge, die hochgezogen wurden, der Rest waren gestandene Spieler. Heute ist die Kabine voll mit jungen Spielern, und punktuell kommen zwei, drei Routiniers dazu - so wie bei uns Daniel Didavi und ich." Der VfB, den der jugendbewegte Sportchef Sven Mislintat angemischt hat, ist ein besonders radikales Beispiel: In der Kabine sitzen lauter leuchtende Versprechen, von denen aber keiner wissen kann, ob sie mal eingehalten werden. Beim Stürmer Silas Wamangituka, 20, ist die Einlösung des Versprechens schon sehr nah, Talente wie Klimowicz, 20, Churlinov, 20, Coulibaly, 19 oder Cissé, 17 sind eher noch eine ferne Fantasie. Mittelfeldspieler Orel Mangala ist mit 22 fast schon ein Führungsspieler, Stürmer Sasa Kalajdzic, 23, ein gesetzter Herr.

Castro kommt sich mit seinen steinalten 33 manchmal vor wie Onkel Gonzo, der den Nachwuchs im Bällebad abholen darf.

Er sei selbst gespannt, "wie unsere junge Mannschaft sich schlägt", sagt Castro, "die Unbekümmertheit kann ein Vorteil sein, es kann aber auch mal andersrum laufen: Dass sich Zweifel einschleichen, wenn mal ein paar Spiele verloren gehen. Das ist jetzt erste Liga, es wird sicher Schwankungen geben. Aber wir wissen, dass wir uns nicht aus der Ruhe bringen lassen dürfen."

Wenn der Kapitän Castro große Reden halten würde, könnte er den Jungen eine motivierende Geschichte erzählen: von einem Profi, der stets bei sich geblieben ist, der "beim Fußball spielen einfach glücklich sein wollte". Es wäre die Geschichte von Gonzalo Castro, der nach Ansicht vieler Experten eine internationale Karriere geopfert hat - weil er sich so oft weigerte, Außenverteidiger zu spielen. Das konnte (und kann) er hervorragend, in der DFB-Elf wäre er auf dieser Problemposition ein halbes Jahrzehnt konkurrenzlos gewesen, 55 Länderspiele könnte er haben statt fünf.

Man kann ihn das ja mal fragen: Denkt er manchmal daran, dass er 2014 Weltmeister geworden sein könnte wie Neuer, Khedira, Özil, Boateng und Hummels, die anderen Jungs aus der U 21-Europameister-Elf von 2009? "Die Frage ist doch: Wäre ich damit glücklicher geworden?", antwortet er, "ich bin vom Naturell her zentraler Mittelfeldspieler, ich brauche viele Ballaktionen und ständig Bindung zum Spiel. Als Außenverteidiger wäre ich nicht glücklich geworden, das hätte sich langfristig wahrscheinlich auch auf meine Leistung ausgewirkt. Ich habe meine Entscheidung nie bereut."

Am Samstag startet der VfB gegen Freiburg in die Saison, bedenklich viele Spieler fehlen verletzt, auch der kaum zu ersetzende Nicolas Gonzalez. Aber Gonzalo Castro kann die Jungs beruhigen. Er hat das ja alles schon erlebt.

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