Süddeutsche Zeitung

Bundesliga:Stuttgart ist erstarrt

  • Der VfB Stuttgart erlebt beim 1:1 gegen den Konkurrenten Nürnberg, dass er kaum mutmachende Spielelemente hat.
  • Die Fans rufen "Aufwachen, aufwachen" und die Mannschaft wirkt wie eine, die nicht weiß, wie sie Fußball spielen soll.

Von Christof Kneer, Stuttgart

Da stand er nun, der Schiedsrichter, und ein ganzes Stadion schaute ihm beim Stehen zu. Frank Willenborg stand und stand, und dass er nicht erstarrt, betäubt oder eingerostet war, ließ sich an seiner rechten Hand erkennen, mit der er in regelmäßigen Abständen auf sein Ohr drückte. Das Verhalten des Schiedsrichters war offenbar ansteckend, um ihn herum standen jetzt auch alle, der Stuttgarter Torschütze Ozan Kabak stand da ebenso wie der Vorlagengeber Anastasios Donis und der Nürnberger Virgil Misidjan.

War Donis etwa im Abseits gewesen, und wenn, mit wie vielen Millimetern seiner Kniescheibe? Hatte Misidjan das Abseits aufgehoben? Alle standen sie da und hofften oder bangten, während Stuttgarts Trainer Markus Weinzierl "in diesen fünf Minuten gefühlt zwei Herzinfarkte" erlitt, wie er später, glücklicherweise putzmunter, einräumte. Am Ende hatten sich die Stehversuche zumindest für seine Elf gelohnt: Der Schiedsrichter erklärte Kabaks Tor (75.) für regulär, die Stuttgarter lösten sich aus ihrer Erstarrung und jubelten. Die Nürnberger ließen ihre Erstarrung sicherheitshalber noch ein Weilchen bestehen.

Doch, man darf den Videobeweis als dramaturgisches Element ausnahmsweise auch mal loben: Beim Kellerduell in Stuttgart (1:1) hat er sich von einer völlig neuen Seite gezeigt. Der Videobeweis wirkte wie eine Wecksirene, auf einmal vergaßen der VfB Stuttgart und der 1.FC Nürnberg ihre Sorgen und Defizite und rannten drauf los. Die Mittelfelder wurden in der letzten Viertelstunde einstimmig aufgelöst, es wurde nur noch gestürmt, gekontert und wieder gegengekontert.

So konnten die Nürnberger später mit einiger Berechtigung darauf verweisen, dass sie ein verdienter Sieger dieser Partie gewesen wären, wenn Stuttgarts Torwart Ron-Robert Zielers einen Kopfball von Misidjan (89.) nicht mit unwirklichem Reflex aus dem Eck gewischt hätte; und den Stuttgartern war ebenfalls nicht zu widersprechen, als sie auf die normalerweise siegbringende Chance von Mario Gomez (88.) verwiesen, die den Club-Torwart Christian Mathenia ebenfalls zu einer akrobatischen Rettungseinlage zwang.

Selten ist ein Spiel so unentschieden ausgegangen wie dieses Spiel zwischen dem Tabellensechzehnten und -siebzehnten. In rührender Parallelität suchten beide Parteien die Partie auf mutmachende Spurenelemente ab, im Zweifel wurde einfach die wehrlose Statistik zwangsinterpretiert. Ja, die Nürnberger sind seit zwei Spielen ungeschlagen und noch nicht abgehängt - und ja, die Stuttgarter haben ihren Vier-Punkte-Vorsprung auf den Club gehalten und damit den Direktabstieg ein kleines bisschen unwahrscheinlicher gemacht.

Erreicht wurden in diesem Spiel somit: die minimalsten Minimalstziele.

Unter den Statistiken und hinter all den gut gemeinte Sätzen verbarg sich am Ende aber eine Wahrheit, die den beiden großen Traditionsklubs nicht gefallen kann. Die Wahrheit aus Nürnberger Sicht lautet, dass diese tapfere kleine Mannschaft sich gerade lobenswert an ihrem Limit befindet, und dass dieses Limit trotzdem nur für Platz 17 reicht. Der Club ist einfach nicht besser besetzt, und alles, was der kreative Matheus Pereira nicht erledigt, erledigt keiner. Die VfB-Wahrheit hingegen lautet, dass diese grundsätzlich schon etwas größere Mannschaft zumindest in dieser Saison ihr Limit nicht mehr erreichen wird.

"Aufwachen, aufwachen" riefen die VfB-Fans in der Cannstatter Kurve nach Schlusspfiff, es war am Ende der passende Soundtrack für dieses Spiel. Sollten sie beim VfB immer noch heimlich davon geträumt haben, dass diese eigentlich doch viel zu gut besetzte Mannschaft demnächst doch noch eine rettende kleine Serie startet: Dann dürfte dieses 1:1 gegen den Club diese Träume erst mal beendet haben. Denn das war ja das Ernüchternde an diesem durchaus strebsamen, aber am Ende doch zu harmlosen VfB: dass es diesmal keine Helden mehr in Reserve gab.

Sonst haben sie beim VfB ja immer sagen können: Ja, wenn der Didavi erst mal wieder mitspielt! Und wenn der Trainer mal checkt, dass er endlich diesen rasenden Donis bringen muss! Und wenn die mal beide zusammen spielen, und dann noch der torgefährliche Zuber dabei ist und vielleicht der leidenschaftliche Gonzalez und sowieso der gute, alte Gomez ... !

Gegen Nürnberg hatte der VfB zumindest in der Schlussphase all seine Waffen dabei, aber er hat offenbar verlernt, diese Waffen auch einzusetzen. Dank der guten Einzelfüße kann der VfB immer mal gefährlich werden, aber die Füße folgen keiner gemeinsamen Idee - und wenn dann noch Daniel Didavi, der beste Fußballer im Kader, nach langer Verletzungspause nur wie ein halber Didavi spielt, dann reicht auch ein anständig organisierter Siebzehnter, um den VfB zu kontrollieren. Zumal Mario Gomez auch ohne lange Verletzungspause nur wie ein halber, eher wie ein viertel Gomez spielt. Der VfB muss sich damit abfinden, dass er zurecht Sechzehnter ist.

Man werde das jetzt "zusammen durchziehen", hat der Sportchef Thomas Hitzlsperger später noch gesagt und damit Markus Weinzierl gemeint. Sie werden im Zweifel also auch die Relegationsspiele mit dem umstrittenen Trainer angehen, vorausgesetzt natürlich, sie müssen vorher nicht noch die kleine Mannschaft aus Nürnberg passieren lassen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4399700
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.04.2019/jbe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.