Nach dem Spiel war er auf einmal da. Er kam so plötzlich um die Ecke, wie er manchmal im gegnerischen Strafraum auftaucht – einfach so, ohne Ankündigung. Doch dieses Mal, in den Katakomben des Stuttgarter Stadions, trug er kein Trikot, wie er es sonst tut, sondern bloß eine graue Jacke, die ihn ziemlich unbeteiligt aussehen ließ. Und unbeteiligt, das ist er momentan ja auch.
Stürmer Deniz Undav, 28, ist verletzt. Deshalb war er am Samstagnachmittag in Zivil unterwegs, als er den Reportern nach dem 2:0 des VfB Stuttgart gegen den VfL Bochum mit einem breiten Grinsen zurief: „Alles gut bei euch?“ Die Frage entbehrte nicht einer gewissen Ironie, schließlich ist Undav derjenige, den man dieser Tage fragen müsste, ob denn bei ihm alles gut ist. Ein Muskelfaserriss bremst den deutschen Nationalspieler aus – und damit steht er ganz oben auf einer Verletztenliste, die dem VfB auf den letzten Metern des Fußballjahres ziemlich zu schaffen macht.
Der Brustring wird immer enger und lässt den Stuttgartern immer weniger Luft zum Atmen. Und das in einer Phase, in der der Spielplan die Mannschaft so richtig fordert. Sieben Partien sind es noch bis Weihnachten, in denen es nicht nur darum geht, in der Bundesliga die internationalen Plätze im Auge zu behalten, sondern auch darum, ins Viertelfinale des DFB-Pokals einzuziehen und in der Champions League über den Winter zu kommen.
In der Adventszeit werden also große Fragen beantwortet. Die Antworten darauf werden der Stuttgarter Saison eine Richtung geben, doch gerade in dieser Phase ist der VfB schon wieder von einer Welle erfasst worden. In der vergangenen Saison war es eine Welle der Euphorie, die den Klub bis auf die internationale Bühne spülte, nun bringt ihn die Welle personell an Grenzen. Gerade in der Offensive fehlen dem VfB zentrale Spieler, in erster Linie Undav und Jamie Leweling (Muskelverletzung im Oberschenkel), in zweiter Linie aber auch El Bilal Touré (Mittelfußverletzung).
„Wir brauchen jeden“, sagte Sebastian Hoeneß nach dem Spiel gegen Bochum und klang dabei weniger verzweifelt, als man meinen könnte. Vor dem Hintergrund der angespannten Personallage betonte Stuttgarts Trainer, sich „nicht lange damit aufhalten“ zu wollen und stattdessen „in Lösungen zu denken“. Gegen Bochum war eine der Lösungen: Josha Vagnoman, von Haus aus Außenverteidiger, spielte nun im rechten Mittelfeld. Und zumindest in der achten Minute war diese Lösung Teil des Problems. Im Vollbesitz seiner Offensivkraft hätte der VfB zu diesem frühen Zeitpunkt des Spiels wohl schon geführt, weil es gar nicht erst Vagnoman gewesen wäre, der den Ball vollkommen frei am Elfmeterpunkt bekommen hätte, um dann ein Luftloch zu treten – sondern Undav oder Leweling.
Die Fußballer, die in dieser Saison im Schatten von Undav und Leweling standen, rücken jetzt in den Vordergrund
So aber, ohne ein frühes 1:0, dokumentierten die 90 Minuten in durchaus anschaulichen Bildern, was man von diesem geplagten VfB gerade erwarten kann: Die Mannschaft schafft es zwar schon, vollkommen verdient gegen einen Gegner wie Bochum zu gewinnen – durch die Ausfälle und die Anstrengungen in drei Wettbewerben ist sie derzeit aber eher eine Light-Version ihrer selbst, eine Art VfBle. Stuttgart stürmt und drängt also, kann dabei aber, umständehalber und verständlicherweise, nicht verbergen, dass es hier und da etwas knarzt.
„Solche Situationen bieten auch immer Chancen“, betonte Hoeneß am Samstag, „wir haben ein paar Jungs, die richtig Potenzial haben. Und jetzt geht es eben ein bisschen schneller, dass sie in die Bresche springen müssen.“ Als Stuttgarts Trainer das sagte, dürfte er auch an die 78. Minute gedacht haben, in der seine Mannschaft eine ziemlich gute Nachricht unter die Leute brachte. Die Nachricht kam aus den hinteren Reihen des Kaders und trug die Handschrift von zwei Spielern, die sich in dieser Saison oft auf der Bank wiederfanden oder – wie sollte es auch anders sein? – verletzungsbedingt ganz außen vor waren: Fabian Rieder und Justin Diehl.
In jener 78. Minute waren die beiden noch nicht einmal 60 Sekunden auf dem Platz, dann bediente Rieder Diehl. Und der schoss prompt sein erstes Bundesligator und ließ ganz Stuttgart damit wissen, wie gut die Spieler zu gebrauchen sind, die anderen bislang oft den Vortritt lassen mussten. Diehls Treffer rundete den Nachmittag auch deshalb ab, weil schon das 1:0 in Person von Chris Führich ein Spieler erzielt hatte, dem der Ball in dieser Saison nicht mehr so leicht vom Fuß geht wie noch im Vorjahr – der nun aber die Gunst der Verletzungsmisere für sich nutzen könnte.
Führich, Rieder und Diehl: Die Fußballer, die in dieser Saison im Schatten der Undavs und Lewelings standen, rücken jetzt in den Vordergrund. Das war die Geschichte des Stuttgarter Sieges über Bochum – und sie kommt dem VfB in den angespannten Zeiten, in denen er sich dieser Tage befindet, gerade recht.
Als Hoeneß hinterher auf Diehl angesprochen wurde, lobte er ihn in höchsten Tönen für seine Professionalität und sagte: „Ihm gehört die Zukunft.“ Vor dem Hintergrund der Verletztenliste dürfte allerdings klar sein: Die Zukunft ist jetzt. Nur am Mittwoch, wenn Stuttgart in der Champions League bei Roter Stern Belgrad antritt, wird Diehl fehlen. Bei all den Undavs und Lewelings war kein Platz mehr frei, um ihn für die Königsklasse zu melden.