Speerwerfer Johannes Vetter:Traumwürfe zum Frühstück

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Johannes Vetter in Dessau: Den nächsten Sieg im Blick. (Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Johannes Vetter erzielt schon zum Saisonstart reihenweise 90-Meter-Weiten und muss der Verlockung widerstehen, den eigenen Perfektionismus auszuleben. Die Devise lautet: Bremsen für Olympia.

Von Saskia Aleythe, Dessau

Wenn die ganze Kraft sich entlädt, kommt der Schrei. Und der kann sich ziehen. Auf der einen Seite fliegt der Speer, auf der anderen schreit Johannes Vetter, und weil der Flug oft ein bisschen länger dauert als der Schrei, folgt dann schon bald der Jubel. 93,20 Meter am Freitag beim Anhalt-Meeting in Dessau, Vetter hat es schon wieder getan: Zwei Würfe über die 90-Meter-Marke, nur 48 Stunden nach seinem letzten Wettkampf, den letzten beiden Würfen über 90 Meter. Es war Vetters 14. Sieg in Serie. Unheimlich, das alles? "Gar nicht", findet Vetter.

Wenn die Böen kommen, müssen die Stabhochspringer am anderen Ende des Stadions aufpassen, hatte sein Trainer Boris Obergföll vor dem Wettkampf noch im Scherz gesagt. Es war windig, aber gefährlich wurde es dann doch nicht, auch weil sich Vetter nach vier Würfen selbst Feierabend verordnete.

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Der Zehnkämpfer muss wegen einer Schulterverletzung für die Olympischen Spiele in Tokio absagen. Speerwerfer Johannes Vetter gelingt Weltjahresbestleistung. Drittligist Dynamo Dresden beurlaubt den Trainer.

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Das ist jetzt seine größte Herausforderung: nicht das Werfen, das Training, das Reisen - sondern auch mal zu sagen: Ist gut jetzt. "Mein Trainer wird heute sagen: Das war eine meiner schlauesten Entscheidungen, den Wettkampf nach vier Würfen zu beenden. Ich glaube, darauf ist er fast stolzer als auf den 93-Meter-Wurf", erklärte Vetter nach seinem Sieg. Der Körper wird nicht zur Maschine, nur weil es sich manchmal fast so anfühlt.

Am Mittwoch waren es 94,20 Meter: Ist er zu früh zu gut?

Zwei Monate sind es noch bis zu den Olympischen Spielen in Tokio, und beinahe könnte die Frage aufkommen: Ist der 28-Jährige zu früh zu gut? Die Speerwerfer starten gerade erst in ihre Saison, die Konkurrenz wirft sich erst warm. In Ostrava in Tschechien am vergangenen Mittwoch katapultierte Vetter den Speer auf 94,20 Meter, der siebtweiteste Wurf seit Einführung des neuen Speers 1986 - der zweitplatzierte Anderson Peters aus Grenada, aktueller Weltmeister, kam auf 83,39 Meter.

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Die Weitspringerin wird wie im vergangenen Jahr ausgezeichnet, der NHL-Eishockey-Profi siegt souverän bei den Männern. Münchens Fußballer, Triple-Sieger 2020, setzen sich in der Mannschafts-Wertung durch.

Weiten, die Vetter selbst mit halber Intensität aus dem Ärmel schüttelt. Er drückt jetzt schon manchmal auf die Bremse, wirft kräfteschonender. Doch selbst diese Versuche "gingen immer noch auf 88 Meter", sagt er. "Es ist gerade so, als würde ich die zum Frühstück essen. Muss man ein bisschen aufpassen", sagt er. Aufpassen auf die eigenen Reserven, aber auch auf die Gedanken. 90-Meter-Würfe sind für ihn zum Standard geworden, auch in der eigenen Wahrnehmung. "90 Meter sind für mich gerade so, wie wenn andere 80 oder 85 Meter werfen. Das ist schon enorm, da muss man den Ball flach halten, nicht überpacen, gesund bleiben."

Lange Zeit hat Vetter unter Schmerzen seinen Sport betrieben, der Fuß am Stemmbein bereitete mit einer Knorpelabsplitterung Probleme, trotzdem gelang ihm noch WM-Bronze in Doha 2019. Genießen konnte er das damals nicht, stand neben sich. Wegen des Fußes, aber auch der Trauer über den Tod seiner Mutter, die Ende 2018 verstorben war. Nach der WM ließ er sich am Fuß operieren und fand auch einen Weg, mit dem Verlust in der Familie umzugehen.

"Ich habe aus der Verarbeitung sehr viel für mich mitgenommen und einen Reifeprozess durchgemacht", sagt er heute, "ich weiß, dass Mama enorm stolz auf mich ist, immer noch. Und sehr auf mich Acht gibt." Er sei heute ein "bisschen ein anderer Johannes Vetter als noch die Jahre zuvor". Er weiß, dass die Balance jetzt stimmen muss, um bei seinen zweiten Olympischen Spielen das angestrebte Gold auch abzuholen.

2016 in Rio schrammte er mit nur sechs Zentimetern an Bronze vorbei, als Thomas Röhler Olympiasieger wurde. Im folgenden Jahr kehrten sich die Verhältnisse um, mit dem WM-Titel in London für Vetter, Röhler auf Platz vier. Röhler hat 2020 keinen Wettkampf bestritten, er hat die Zeit fürs Trainieren genutzt und für die neue Rolle als Vater; den Saisonstart in Dessau musste er wegen einer Muskelverhärtung im Rücken absagen.

Ein Aufeinandertreffen wird es wohl bei den deutschen Meisterschaften in Braunschweig Anfang Juni geben. Seit einiger Zeit kann sich Vetter nur noch an historischen Bestmarken messen oder an dem eigenen Vermögen. Oft ist beides identisch. "Technisch gibt es immer noch ein paar Reserven, da bin ich Perfektionist", sagt er selbst. Wo seine Grenze ist, weiß er noch nicht. Im vergangenen September fehlten ihm mit 97,76 Metern ja nur 72 Zentimeter zum Weltrekord von Jan Zelezny von 1996. "Ich habe einiges vor", sagt Vetter.

Ratschläge von Diskuswerfer Robert Harting

Und so befreit wie er gerade auftritt, soll es weitergehen. Die scheinbare Leichtigkeit ändert allerdings nichts daran, dass mit jedem Versuch enorme Kräfte auf seinen Körper wirken, das Zehnfache des eigenen Gewichts.

"Man merkt es dann schon ein bisschen in den Knochen, dass man ein bisschen vorsichtig sein muss", sagt er. Gesund durchzukommen bis Tokio, ist jetzt die Devise. Er hat sich auch beim ehemaligen Diskuswerfer Robert Harting Tipps geholt, wie man damit umgeht, wenn man mal so einen Lauf hat - und eine Verletzung die Träume platzen lassen könnte. "Man hört schon sehr tief in sich rein, was gibt der Körper für Signale", sagt Vetter. Und dann ist Bremsen schlauer als Vollgas.

Aufhören, wenn es noch kitzelt in den Armen und das Adrenalin durch den Körper schießt, ist natürlich nicht immer so leicht. "Weltklasse, phänomenal, einfach geil", fand er seine Würfe in Dessau. Mit Worten Energie rauslassen, das kann ja auch ein Ventil sein.

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