Süddeutsche Zeitung

Vettel-Entdecker Helmut Marko im Gespräch:"Er weiß, was er tun muss - und tut es"

Vor der anstehenden WM-Titelverteidigung von Sebastian Vettel spricht dessen Förderer und Ziehvater Helmut Marko über seine erste Begegnung mit dem heranwachsenden Vettel, die enormen Rennfahrer-Fähigkeiten und die heimlichen Schwächen des Formel-1-Weltmeisters.

René Hofmann

SZ: Herr Marko, wann sind Sie Sebastian Vettel erstmals begegnet?

Marko: Das war an der Rennstrecke in Spielberg. Damals war er elf oder zwölf Jahre alt und fuhr Go-Kart.

SZ: War er ein besonderer Fahrer?

Marko: Das war für mich damals nicht erkennbar. Er war ein Bürscherl, das ein bisschen verschüchtert mit seinem Vater unterwegs war. Es war überhaupt nicht zu ahnen, was aus dem mal wird.

SZ: Wann war das absehbar?

Marko: Das zweite Mal bin ich ihm 2003 begegnet. Damals fuhr er in einer von BMW und dem ADAC initiierten Nachwuchsserie. Wir trafen uns im Herbst, beim Rennen in Hockenheim, um über seine Aufnahme ins Red-Bull-Juniorteam zu verhandeln.

SZ: Für Vettel eine wichtige Weichenstellung, oder?

Marko: Absolut. Es ging um einen leistungsbezogenen Fünfjahres-Vertrag. Sollte die Leistung stimmen, würde Red Bull die Kosten für seinen Rennwagen übernehmen. In der Formel BMW waren das so 200 000 Euro, in der Formel 3 600 000 bis 700 000 Euro und in der Formel Renault 800 000 Euro. So eine Zusage ist für jedes Talent ein großer Schritt.

SZ: Wie liefen die Verhandlungen?

Marko: Ich erinnere mich, wie er dasaß: Er war 16, trug noch Zahnspange. Er sah aus, wie die meisten Jungs in dem Alter aussehen: ein bisschen milchig, noch keine Konturen. Aber an den Fragen, die er gestellt hat, war abzusehen: Da weiß einer, wie seine Zukunft aussehen soll.

SZ: Haben die Leistungen auf der Strecke denn dann gleich gestimmt?

Marko: Nicht nur die. Red Bull hat in Thalgauegg ein Leistungs- und Diagnostikzentrum. Dort werden alle 500 Athleten, die die Firma unterstützt, betreut. Es gibt psychologische Checks, vor allem aber wird die Fitness regelmäßig überprüft. Und dabei hat sich sehr schnell eine typische Vettel-Eigenschaft gezeigt.

SZ: Welche?

Marko: Er war nicht nur fit. Er war bald der Fitteste im ganzen Juniorteam. Er hat das die anderen aber nicht spüren lassen. Er hat es so angestellt, dass es nur in den Auswertungen zu erkennen war. Um das zu schaffen, hat er sich die speziellen Fitness-Maschinen, die wir verwendet haben, auch für zu Hause organisiert.

SZ: Warum ist die Fitness so wichtig? Das Auto fährt doch von alleine.

Marko: Wer austrainiert ist, kann sich besser konzentrieren, er hat mehr Kapazität im Kopf frei. Vettel können wir im Rennen vom Kommandostand aus per Funk jederzeit eine Frage stellen - und er antwortet auch. Für ihn ist das, was er gerade macht, schon nicht mehr aktuell. Er ist in seiner geistigen Verarbeitung immer schon in der nächsten oder übernächsten Kurve. Bei anderen Fahrern kann es, wenn es keine simple Frage ist, schon mal eine Runde dauern, bis am Funk etwas zurückkommt.

SZ: Was zeichnet Vettel noch aus?

Marko: Die Fähigkeit, unter Druck das Beste abrufen zu können. Wir hatten in diesem Jahr in der Qualifikation einige Male ein Problem mit dem Bremsenergie-Rückgewinnungs-System Kers. Die Fahrer wussten: Sie haben nur eine Runde, in der sie die Zusatz-PS nutzen können, die das System bringt. Zu 98 Prozent bekam Vettel das hin. Sein Teamkollege Mark Webber hatte da, wie die meisten Fahrer, größere Schwankungen.

SZ: Fitness, Druck-Resistenz - wo würden Sie ihm sonst noch eine eins ins Zeugnis schreiben?

Marko: Beim Technik-Wissen.

SZ: Warum ist das wichtig?

Marko: Damit der Fahrer die Ingenieure fordern kann. Formel-1-Ingenieure sind eine arrivierte Clique. Das sind hoch intelligente, gut ausgebildete Leute, die wissen: Egal, wie der Fahrer abschneidet, ich habe meinen Job nächstes Jahr noch. Manche sitzen auch, was die Technik betrifft, auf einem hohen Ross. Wenn dann ein junger Hüpfer als Pilot kommt und sagt ,Was ihr mir da gebt, passt nicht', dann stutzen die erst einmal. Ein junger Fahrer kann sich nur durchsetzen, wenn er ein fundiertes Wissen hat.

SZ: Das klingt abstrakt. Wie viel bringt das denn auf der Strecke? Eine Sekunde, zwei Sekunden pro Runde?

Marko: Wir reden da über Marginalien, um Steigerungen von Hundertstel- oder Tausendstelsekunden. Aber wenn sie das mit 54 multiplizieren, so viele Runden hat ein Rennen im Schnitt, dann kommt doch etwas zusammen. Die Abstimmung, das Motormanagement, der Reifenverschleiß - Vettel hat ein Knowhow, das die Ingenieure zum Optimum treibt. Dafür ist Intelligenz nötig. Und Fleiß. Er ist immer bei den Letzten, die das Fahrerlager verlassen.

SZ: War das schon immer so?

Marko: In seinem zweiten Jahr in der Formel BMW gewann er von 20 Rennen 18. Jeder andere hätte gefeiert, sich selbst zum Größten erklärt. Er aber hat gegrübelt, was bei den zwei Rennen schief lief. Das hat ihn wirklich gestört. Im Jahr darauf wurde es noch krasser.

SZ: Inwiefern?

Marko: Er stieg in die Formel 3 auf, zu einem renommierten deutschen Team. Die erste Saisonhälfte verlief enttäuschend, da kam er zu mir und sagte: Das und das läuft falsch, das muss sich ändern. Daraufhin bin ich mit ihm zum Team. Das hatte den Standpunkt: Ach was, das ist doch bloß ein größenwahnsinniger 17-Jähriger. Unser Ingenieur arbeitet seit 20 Jahren im Motorsport, der weiß, was er tut.

SZ: Wie ging die Geschichte aus?

Marko: Vettel setzte sich durch. Und siehe da, in der zweiten Saisonhälfte gehörte er zu den Siegfahrern.

SZ: Wie oft haben Sie Fahrer erlebt, die eine solche Initiative ergriffen?

Marko: Das ist die Ausnahme. Vater und Sohn Vettel bildeten ein besonderes Duo.

SZ: Inwiefern?

Marko: Der Vater hat sich in wenig eingemischt. Aber er hat sich regelmäßig an die Strecke gestellt und mit seinem geschulten Auge beobachtet, wie die Autos lagen. So bekam der Sohn für das, was er im Auto gefühlt hat, immer wieder ein gutes Feedback. Das hat sein Selbstbewusstsein reifen lassen.

SZ: Wo ist diese Selbstsicherheit hilfreich?

Marko: 2007 und 2008 fuhr Vettel für Toro Rosso. Das Team war klein, es hatte vielleicht 120 Leute. Im Jahr darauf sollte er Red Bull Racing anführen, eine dreimal so große Mannschaft. Keine leichte Aufgabe. Aber vom ersten Test an ging er sie offensiv an. Er hat sofort gesagt: Ich will andere, bissigere Bremsen, solche, die die anderen Fahrer abgelehnt hatten. Er hatte eine Liste an Forderungen, die klar zeigten: Wir greifen an!

SZ: Und da merkten Sie: Hoppla, da reift ein enormes Talent?

Marko: Solche Momente gab es oft. Sein Jahr in der Formel 3 beispielsweise war noch aus einem zweiten Grund beeindruckend: Parallel hat Vettel noch sein Abitur gemacht. Das war alles andere als eine kleine Doppelbelastung. Aber auch dabei war eine Fähigkeit zu besichtigen: Rennfahren gilt in einem normalen deutschen Gymnasium ja nicht unbedingt als erstrebenswertes Sportprogramm. Um aber allen klarzumachen, was er da tut, hat er einmal seine Lehrer eingeladen. Das habe ich häufiger beobachtet: In jeder Rennserie, in der er antrat, hat er schnell Kontakte zu den wichtigen Leuten geknüpft. Er wusste immer: Dort will ich hin. Und dann hat er gefragt: Wer kann mir dabei helfen?

SZ: Nimmt er Ratschläge denn an?

Marko: Er hört zu, und was für ihn wichtig ist, nimmt er auch an. Kritik akzeptiert er manchmal nur mit Verzögerung. Aber er analysiert wirklich alles.

SZ: Ein Beispiel?

Marko: Sein Fehler im Rennen 2010 in Budapest. Er hat ein Top-Auto und führt überlegen. Es sieht so aus, als würde er alle überrunden. Dann kommt das Safety Car, bremst das Feld ein, und Vettel rechnet hoch: Wenn ich den Neustart hinauszögere, gebe ich meinem Teamkollegen über die Taktik vielleicht die Chance, eine Position gutzumachen. Dabei unterläuft ihm ein Fehler. Der Abstand zum Safety Car wird zu groß, die Rennkommissare bestrafen ihn mit einer extra Durchfahrt durch die Boxengasse. Anstatt Erster wird Vettel nur Dritter. Als er aufs Treppchen gerufen wird, zeigt er ein Gesicht, als gehe die Welt unter.

SZ: Was Ihnen nicht gefallen hat.

Marko: Ich habe ihm gesagt: Das geht nicht! Ein dritter Platz ist etwas, was das Gros der Formel-1-Fahrer nie erreicht. 500 Leute haben hart dafür gearbeitet, dass du ein Auto hattest, mit dem du alle überrunden konntest. Denen kannst du nicht so ein Gesicht zeigen. Es war dein Fehler! In so einem Moment muss man die Stärke haben, sich aufrecht hinzustellen. Seither ist so was nie mehr passiert.

SZ: Wie wichtig ist die Psychologie im Rennenduell für den Erfolg?

Marko: Schauen Sie sich nur die jüngsten Rennen an, die er gewonnen hat. Die liefen alle nach dem gleichen Schema ab. Erste Runde: Bang! Mit einer guten Rundenzeit wird die Konkurrenz gleich demoralisiert. Dann geht es ans Ausbauen. Je nach Strecke braucht der Führende zwischen zweieinhalb und vier Sekunden Vorsprung, damit der Zweite auch mit einem früheren Boxenstopp keine Chance hat, nach vorne zu kommen. In den meisten Rennen hat das wunderbar geklappt. Danach geht es darum, so schnell wie möglich zu fahren und dabei die Reifen so gut wie möglich zu schonen. Für die Zuschauer ist das nicht immer sehr attraktiv, aber ihm und uns ist das die liebste Art, zu gewinnen: Vettel weiß, was er tun muss - und er tut es.

SZ: Das war nicht immer so.

Marko: 2009 war er zu ungestüm. Für 2010 würde ich das relativieren. Die ersten zwei Rennen hat er souverän angeführt, doch dann warfen ihn Defekte zurück. Das zehrt. Die verlorenen Punkte wollte er aufholen - und das hat dazu geführt, dass er in der ein oder anderen Situation aggressiver gefahren ist. Für mich gab es in dem Jahr aber ein ganz anderes Schlüsselerlebnis mit ihm . . .

SZ: . . . Welches?

Marko: Das Rennen in Korea. Die Strecke war neu, sie war nicht wirklich fertig und sie liegt an einem Ort, der nicht sehr ansprechend ist. Es regnete sintflutartig. Das Rennen lief an der Grenze des Zumutbaren und des Machbaren. Und dann flog auch noch Mark Webber ab! Da war die Stimmung im Team schon schlecht, aber immerhin führte Vettel ja noch und fuhr dem WM-Titel entgegen. Plötzlich, wenige Runden vor dem Ziel: Motorschaden. In der Box sind alle deprimiert - bis Vettel kommt. Er stellt sich hin und sagt: Hey, noch ist das Titelrennen nicht vorbei! Wir haben noch zwei Rennen. Wir schaffen das. Er hat das ganze Team aufgerichtet. Das war einmalig, weil es aus dem Selbstvertrauen kam, das er in der Saison getankt hatte, aus dem Wissen, was er bewegen kann.

SZ: Der knappe Titelgewinn war dann eine packende Geschichte. Wie viel hat sie Red Bull geschäftlich gebracht?

Marko: Firmenchef Dietrich Mateschitz hatte schon nach dem Rennen in Monte Carlo gesagt: Der Werbewert unseres Doppelsieges hier ist höher als das Jahresbudget für den Rennstall. Wie wichtig die Figur Vettel ist, lässt sich daran ablesen, dass Deutschland im schwierigen Jahr 2010 der einzige etablierte Markt gewesen ist, auf dem Red Bull wachsen konnte. Und das zweistellig.

SZ: Mit 23 Jahren war Vettel der jüngste Formel-1-Weltmeister. Wie hat ihn der Titel verändert?

Marko: Er hat ihm Leichtigkeit gebracht. Jetzt muss er nichts mehr beweisen. Das, was er kann, klappt nun wie selbstverständlich.

SZ: Vettel bekommt viel Lob dafür, dass er trotz des frühen Erfolges relativ bodenständig geblieben ist. Warum ist das so wichtig?

Marko: Ich denke, das ist für jeden Sportler, im Motorsport aber besonders wichtig: Wenn sie umgeben sind von vielen Mitarbeitern und diese durch ein arrogantes Auftreten vergrätzen, dann bekommen sie nicht mehr die optimale Unterstützung. Bei uns läuft das so: Unmittelbar vor jedem Rennen treffen noch neue Teile ein. Das geht aber nur, wenn in der Fabrik in England 24 Stunden gearbeitet wird. Und das wiederum geht nur, wenn die Leute wirklich den Glauben haben, es für den Fahrer zu tun.

SZ: Ist das Vettel bewusst?

Marko: Ich denke schon. Er stammt aus bescheidenen Verhältnissen, sein Vater war und ist Zimmermann. So jemand weiß, dass Geld nicht auf Bäumen wächst. Ungewöhnlich ist eines: dass Vettel bewusst auf Geld verzichtet, um Zeit zu haben und Kraft schöpfen zu können. Neben dem, was wir mit ihm machen, tritt Vettel wenig auf. Er macht nicht jeden Jahrmarkt mit, und das, obwohl es ja nicht um Peanuts geht: Wenn ein Formel-1-Weltmeister kommt, locken gleich einige Hunderttausend Euro.

SZ: Sie haben den Vettel-Vertrag im Januar bis 2014 verlängert. Ist es der Plan, eine Ära zu prägen, wie es Ferrari einst mit Michael Schumacher gelang?

Marko: Unser Bestreben war, für einen gewissen Zeitraum Stabilität zu haben. Deshalb haben wir früh angefangen, die Technik-Crew bis Ende 2014 zu binden. Das begann mit Technik-Chef Adrian Newey und geht runter bis zu den Abteilungsleitern. Als wir dort alle Führungspersönlichkeiten zusammen hatten, gingen wir zu Vettel und sagten: Zur Stabilität gehört der Fahrer. Das bieten wir dir, das wollen wir von dir. Mit dem, was Ferrari und Schumacher einst getan haben, hatte das nichts zu tun.

SZ: Stört es Sie eigentlich, dass Vettel immer mal wieder durchblicken lässt, eines Tages Ferrari fahren zu wollen?

Marko: Das ist doch der Traum der meisten Rennfahrer. Und ich kann das durchaus verstehen, ich bin ja selbst einmal ein Sportwagen-Rennen für Ferrari gefahren. Dieser Mythos! Wenn man nach Maranello kommt, wo alles nur Ferrari ist . . . Früher war das noch ärger, als der alte Enzo Ferrari noch lebte und mit seiner dunklen Brille bei Kerzenschein in seinem düsteren Kammerl saß. Das war ja mehr als eine Inszenierung. Aber der Vettel ist pragmatisch: So lange wir ihm ein Paket hinstellen, das besser ist als das der anderen, glaube ich nicht, dass er nur der Glorifizierung wegen bei Ferrari fahren wird.

SZ: Am Wochenende wird Sebastian Vettel wohl zum zweiten Mal Weltmeister. Es fehlt nur noch ein einziger Punkt. Merkt man es ihm an, wenn etwas Besonderes ansteht?

Marko: Schon. Das Rennen vor vier Wochen in Monza ist dafür ein gutes Beispiel. Red Bull Racing hatte dort nie zuvor eine Podiumsplatzierung erreicht. Alle hatten uns angedichtet: Monza liegt eurem Auto nicht, dort bekommt ihr eins drüber. Vettel aber war auf der Strecke 2008 mit Toro Rosso sein erster Sieg geglückt. Jetzt wollte er allen zeigen, dass der damalige Erfolg kein Zufall war. Im Team war dort eine extreme Spannung zu spüren, ob das jetzt in Japan auch so sein wird, weiß ich nicht. Da hat er ja schon zweimal gewonnen. Und ob er den Titel dort oder eine Woche später in Korea holt, spielt keine so große Rolle mehr.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1157651
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.10.2011/jbe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.