Max Verstappen besiegt Lewis Hamilton:Eine verdammte Runde!

Die Ära von Hamilton ist nach sieben Jahren beendet. In einem nervenzerreißenden Finale in Abu Dhabi krönt sich Verstappen auf den buchstäblich letzten Metern zum neuen Formel-1-Weltmeister. Mercedes legt Protest ein, der wird viereinhalb Stunden nach Rennende abgewiesen.

Von Philipp Schneider, Abu Dhabi

Ein Wunder, Max Verstappen benötigte ein Wunder! Und so geschah es.

Das Wunder erschien sechs Runden vor dem Ende dieses mit großer Spannung erwarteten Saisonfinals der Formel 1. Das Mirakel manifestierte sich in Form der Nase eines Williams von Nicholas Latifi. Der Kanadier bohrte sie tief in die Bande am Hafen von Abu Dhabi. Zum ersten Mal an diesem Rennsonntag, an den man sich noch viele Jahre erinnern wird, rückte das leibhaftige Safety Car aus. Zahlreiche Teile mussten eingesammelt werden. Und Lewis Hamiltons Butterfahrt zum achten WM-Titel, mit fluffigen elf Sekunden Vorsprung vor Verstappen, dazu im schnelleren Auto, sie war plötzlich akut gefährdet.

Wie ein Schatten fuhr nun Verstappen hinter Hamilton, der wiederum im Heck des Safety Cars lauerte. Runde um Runde drehten sie im langsamen Tempo um den Hafen. Und Verstappen lauerte wie eine Katze vor dem Sprung. Fünf Runden noch zu fahren. Vier Runden. Drei Runden. Zwei. Dann, der Funkspruch: "Safety Car ending".

Ernsthaft? Vor der letzten Runde?

Ja, ernsthaft. Kurz vor der letzten Umdrehung deaktivierte das Safety Car tatsächlich seine Lichter. Das Rennen war damit freigegeben. Das bedeutete: Eine Runde, eine verdammte Runde würde diese Weltmeisterschaft entscheiden! Die mit 22 Rennen längste der Geschichte. Und die erste seit 1974, in die zwei Fahrer punktgleich ins Finale gerollt waren. Was für ein Drama.

"No, Michael, this is so not right", schrie Toto Wolff, der Teamchef von Mercedes, in sein Mikrofon. Er meinte Rennleiter Michael Masi. Der hatte zuvor die Anweisung erteilt, jene fünf zu überrundenden Autos, die sich zwischen den zwei Piloten befanden und die sonst einen Sicherheitspuffer für Hamilton gebildet hätten, für den Showdown aus dem Weg zu schaffen - indem sie sich zurückrunden sollten. Und Wolff wusste: Verstappen, er hatte Reifen, die fünf Runden alt waren. Die von Hamilton waren 44 Runden alt. Hamilton trat an mit einer Dampflok gegen einen Schnellzug. Hamilton hatte keine Chance.

Ein letztes Mal jaulten die Motoren, in Kurve fünf schoss Verstappen vorbei an Hamilton. Das ist jetzt wichtig, weil jedes Detail in die Geschichtsbücher wandern wird. Es war also ein Manöver in Kurve fünf, das Verstappen, diesem 24-jährigen Wunderknaben, am 12. Dezember 2021, dem dritten Advent, seine erste Weltmeisterschaft sicherte. Hamilton probierte noch einmal zu kontern. Verstappen holte sich die Position zurück.

Der Rest ging unter in Feuerwerk und Tränen. Freudentränen bei Verstappen, Fassungslosigkeit bei Mercedes. "Du hast es geschafft, wir lieben dich so sehr!", dröhnte es von Red Bulls Kommandostand in Verstappens Ohren. Und Hamilton? Er rollte aus. Blieb sitzen. Minutenlang. Der Helm verdeckte jede Emotion. An seine Ohren drang die Stimme von Peter Bonnington, seinem Renningenieur, den er seit den ersten Tagen kennt: "Lewis, ich bin absolut sprachlos." Und sein schwarz lackierter Silberpfeil sah nun aus, als trage er Trauer.

Was für ein Rennen. Was für ein Finale. Vielleicht das größte in 71 Jahren Formel-1-Geschichte, wer weiß. Sporthistoriker werden noch in Jahrzehnten darüber streiten, ob ein anderes Drama diesem Konkurrenz machen kann. Zumal es Mercedes fertigbrachte, dieses noch zu verlängern.

Denn Hamiltons Rennstall legte nach dem Rennen zwei Proteste ein. Einmal, weil Verstappen während der Safety-Car-Phase angeblich Hamilton kurzzeitig überholt habe. In Wahrheit hatte der Niederländer nur kurz seinen Frontflügel in Führung gebracht; dieser Protest wurde vier Stunden nach Rennende abgewiesen.

Den zweiten aber, den entscheidenden Protest, legte Mercedes wegen des Verhaltens des Safety Cars selbst ein, und da wird es nun leider regeltechnisch kompliziert. Mercedes monierte nämlich, dass sich nicht alle überrundeten Autos zurückrundeten. Und dass sich das Safety Car angeblich zu früh zurückgezogen hatte - und nicht erst am Ende der folgenden Runde, nachdem sich die Autos zurückgerundet hatten. Diese Vorgabe gibt es tatsächlich in Paragraph 48.12 der Regeln des Automobil-Weltverbandes.

Die Rennleitung lehnte den Protest trotzdem viereinhalb Stunden nach der Zieldurchfahrt ab, nachdem sie die Teams zweimal einbestellt hatte. Mercedes brachte zu den Treffen einen Anwalt mit. Die Stewards kamen aber zu dem Schluss, dass Rennleiter Michael Masi über die volle Kontrolle über das Safety Car verfüge. Zudem stehe in einem weiteren Paragraphen, 48.13, dass das Safety Car in der gleichen Runde an die Box kommen müsse, in der die Nachricht "Safety Car in this Lap" erscheine. Mercedes kündigte an, sich in den kommenden 48 Stunden zu überlegen, ob das Team in Berufung gehen wird.

Was für juristischer Hickhack. Und was für ein passender Abschluss für diese Saison voller Gezank und Proteste, dass sie nun mit dem größtmöglichen Krach zu Ende geht.

Was war schon vor diesem Rennen alles diskutiert worden. Vor allem Crash-Szenarien wurden besprochen. Weil es ja diese einzigartige Situation gab: Hamilton und Verstappen waren zwar punktgleich. Aber der Niederländer hatte neun Rennen gewonnen, Hamilton nur acht. Während Hamilton also unbedingt die Ziellinie vor Verstappen erreichen musste, um sich den Titel zu schnappen, würde dem Niederländer auch ein gemeinschaftliches Unglück genügen. Verstappen wusste: Würde er Arm in Arm in den Abgrund springen mit Hamilton, wäre er Weltmeister. Unter der Voraussetzung, dass er unbestraft bleiben würde nach der Szene.

Und dann diese Konstellation beim Start: Verstappen auf der Pole Position mit weichen Reifen. Dahinter Hamilton mit den langsameren, mittelharten. "Wir werden einen massiven Angriff starten", kündigte Wolff vor dem Start an. Man hielt das für einen Scherz, Hamilton musste ja vor allem zusehen, dass er sich keinen Schaden holt.

F1 Grand Prix of Abu Dhabi

Ampeln aus, los geht es: Lewis Hamilton gewinnt den Start.

(Foto: Peter Fox/Getty Images)

Die Ampeln gingen aus in Abu Dhabi - und Hamilton legte einen Start hin, wie mit dem Katapult losgeschossen. Verstappen fuhr hinter ihm her, kreiste um die zweite Kurve, die dritte, die vierte, die fünfte, und dann, in der sechsten, da versuchte er, sich innen vorbei zu schieben. Er bremste so spät, dass er die Kurve niemals hätte bekommen können. Hamilton nahm einen ganz weiten Umweg durch die tipptopp asphaltierte Auslaufzone. Verstappen fuhr ebenfalls unbeschadet weiter, allerdings auf der Strecke. Die Kommissare legten sich ziemlich schnell fest: Keine Untersuchung ist notwendig.

"Er muss mir die Position zurückgeben", funkte Verstappen. "Er hat mich abgedrängt", konterte Hamilton. Obwohl Verstappen den Silberpfeil nicht berührt hatte bei dem Manöver, war der Fall ziemlich klar: Hamilton musste weit fahren, um einen Kontakt zu vermeiden. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als die Strecke zu verlassen - und sich so die Führung zurückzuholen.

Formula 1 2021: Abu Dhabi GP YAS MARINA CIRCUIT, UNITED ARAB EMIRATES - DECEMBER 12: Max Verstappen, Red Bull Racing RB

Erster Aufreger: Verstappen drängt Hamilton neben die Strecke.

(Foto: Simon Galloway/imago)

Der Trost für Red Bull bestand nun darin, dass sich ihr zweiter Fahrer Sergio Perez unmittelbar nach dem Start an dem drittplatzierten Lando Norris vorbeigeschoben hatte. Hamiltons Helferlein Valtteri Bottas hingegen war mal wieder keine große Hilfe, auch nicht im letzten Rennen für Mercedes. Er fiel ziemlich schnell von Rang sechs zurück auf acht.

Das Rennen rollte nun so vor sich hin wie eines, das schon entschieden war. Verstappen klagte weiter im Funk, diesmal über seine weichen Reifen, die immer stärker abbauten. Auch das hätte allerdings keine Überraschung sein dürfen. Hamilton dagegen fuhr nun die schnellste Runde, zog davon auf 4,5 Sekunden. Es war völlig klar: Red Bull hatte keine Chance. Aber irgendwas mussten sie ja unternehmen.

Perez kämpft für Verstappen

In Runde 14 holten sie Verstappen an die Box für einen Reifentausch. Hamilton folgte eine Runde später. Beide Piloten verlangten nach der harten Mischung, auf der sie die Ziellinie erreichen wollten. Mercedes benötigte drei Zehntel länger für die Montage als Red Bull - und dann lief dieses Rennen auf einen ersten wunderbaren Höhepunkt zu: ein Musterbeispiel des fairen Racings.

Sergio Perez, Verstappens Teamkollege, war noch länger draußen gelblieben mit seine Reifen und hatte deshalb die Führung übernommen. Aber Hamilton rückte von hinten mit Sieben-Meilen-Stiefeln heran - und musste vorbei. In Runde 19 überholte er den Mexikaner, der jedoch konterte unmittelbar, presste sich wieder in Führung. Und Hamilton, der ja unbedingt einen Crash verhindern musste, fuhr nun so vorsichtig, als rolle er auf rohen Eiern. Das alles kostete ihn so viel Zeit, dass sich sein Vorsprung auf Verstappen, als er es endlich an Perez vorbeigeschafft hatte, von acht Sekunden auf zwei reduziert hatte. "Perez ist eine Legende", funkte Verstappen voller Dankbarkeit. Aber spannend wurde das Rennen trotz dieses extrem fairen, harten und aufopferungsvollen Kampfes von Perez trotzdem nicht. Noch nicht.

Kimi Räikkönen steigt zum letzten Mal aus dem Dienstwagen

Dafür war Verstappen schlicht zu langsam. Zeitweise kreiste er sechs Zehntel langsamer als Hamilton. Nach 29 Runden tuckerte er schon wieder 3,6 Sekunden hinter Hamilton. Und Perez war nun auch keine Hilfe mehr, auf ermatteten Reifen schleppte er sich endlich an die Werkstatt und sortierte sich 30 Sekunden hinter Hamilton als Dritter ein.

Kimi Räikkönen, der alte Meister des Motorsports, lieferte indes noch ein feine Pointe in seinem 349. und letzten Rennen, die an dieser Stelle nicht unterschlagen werden soll. Er verließ die Bühne der Formel 1 sozusagen durch die Hintertür. In Kurve sechs setzte er seinen Alfa Romeo in die Bande, danach schleppte er sich sogar noch in die Box und bekam einen neuen Frontflügel verpasst. Aber nach 26 Runden kehrte er dorthin zurück und kletterte ein letztes Mal aus einem Dienstwagen der Formel 1. Andererseits: Weiß man's?

Und dann verteilte das Schicksal ein erstes Geschenk an Verstappen. Der Italiener Antonio Giovinazzi, Räikkönens Teamkollege, stellte seinen Alfa Romeo an einer Stelle ab, die dem sicheren Verkehrsfluss nicht förderlich war. Toto Wolff stöhnte mit Grabesstimme in den Funk: "Michael, bitte kein Safety Car in diesem Rennen." Aber doch, es musste sein. Rennleiter Masi aktivierte das Virtuelle Safety Car. Und Hamilton, der in diesem Moment eigentlich mit einem lockeren Vorsprung von fast sechs Sekunden vor Verstappen und einem deutlich schnelleren Auto dem Ziel und seiner achten Weltmeisterschaft entgegenstrebte, er war zum ersten Mal bedroht.

Als Führender konnte er es sich nicht erlauben, für einen neuen Satz Reifen an die Box zu fahren - weil Verstappen dann einfach weitergefahren wäre und sich auf alten Reifen möglicherweise als Sieger ins Ziel geschleppt hätte. Verstappen jedoch konnte einen Besuch an der Garage wagen. Er wusste: Er würde mit einer Montage während einer Safety-Car-Phase massiv Zeit sparen. Den Versuch war es wert. Sein Rückstand betrug nun 20 Sekunden. Und es waren noch 22 Runden zu fahren.

Wie der Teufel drückte Verstappen aufs Gas, zeitweise machte er eine Sekunde gut. Es hätte vielleicht nicht viel gefehlt, und ein technischer Defekt von Antonio Giovinazzi - eines Fahrers, der in der kommenden Saison mangels Schnelligkeit abgeschoben werden wird in die Formel E - er hätte den engsten Titelkampf der Formel seit 1974 entschieden.

Das konnte ja nun wahrlich niemand wollen.

Und so kam es auch nicht. Hamilton streichelte seine alten Reifen sanft, als wären sie vier Kaschmirkatzen und hätte die Führung ins Ziel gerettet. Es brauchte schon die Kombination eines Unfalls von Giovinazzi mit einem von Latifi, dazu ein Virtuelles und ein richtiges Safety-Car, um die Ära von Lewis Hamilton und Mercedes nach sieben Jahren zu beenden. "Manchmal", sagte Verstappen, "da passieren eben Wunder."

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