Die Geschichtsbücher waren schon aufgeschlagen, bevor Tyson Fury und Oleksandr Usyk überhaupt in den Ring stiegen. Beide waren vor dem Kampf in der Nacht von Samstag auf Sonntag als Schwergewichtsweltmeister ungeschlagen. Es ging zum ersten Mal seit Jahrzehnten um alle wichtigen Titel der großen Boxverbände. Es sollte also ein König gekrönt werden, im Königreich Saudi-Arabien. Und, so viel kann man sagen, der Kampf wurde dem Hype gerecht, der im Vorfeld darum gemacht wurde.
Wer erwartet hatte, dass der größere, schwerere Fury sich einfach auf den kleineren Usyk lehnen würde, wurde gleich überrascht. Fury bewegte sich viel, ging um den Gegner herum, schlug die Linke locker aus der Hüfte. Er wollte offensichtlich einen guten, wenn nicht sogar schönen Kampf gegen seinen bisher besten Gegner zeigen. Usyk aber griff an, drückte, kam an der Linken Furys vorbei und traf den großen Mann, gegen den er regelrecht zierlich wirkte, trotz seiner 1,91 Meter. Der kleinere Mann machte den Kampf, wie man im Boxen sagt. Das war unerwartet, um es mal zurückhaltend auszudrücken. So entschied er die ersten drei Runden für sich.
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15 Zentimeter kleiner, 18 Zentimeter weniger Reichweite: Eigentlich hat Tyson Furys Herausforderer im Schwergewichtskampf keine Chance. Doch Oleksandr Usyk kennt seine Qualitäten. Er sagt: "Die Größe ist egal."
In der Halle wurde dabei vorwiegend für Fury gejubelt, die englischen Schlachtenbummler waren zahlreich angereist. Die Ukrainer haben derzeit andere Sorgen, als einen Boxer zu bejubeln. Immerhin Wladimir Klitschko war da, der seinen Titel einst an eben diesen Tyson Fury verloren hat, der daraufhin eine neue Ära im Schwergewicht einleitete, die in dieser Nacht ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Das Königreich Saudi-Arabien versucht derzeit, sein Image mit großen Boxkämpfen aufzupolieren. Dabei stehen nicht nur Champions im Ring, es werden auch welche eingeflogen, die ihre Plätze in den Geschichtsbüchern schon gesichert haben.
Neben Klitschko waren noch eine Reihe anderer ehemaliger Weltmeister anwesend, unter ihnen Evander Holyfield und Lennox Lewis, mittlerweile mit weißem Bart. Die beiden waren die bislang letzten Schwergewichte, die einen ähnlich hochklassigen Kampf um alle großen Titel abgeliefert hatten. 1999 in Las Vegas war das. Schon ein bisschen her. Und sie bekamen eine Schlacht geliefert, für die sich die Anreise gelohnt hat.
Fury nimmt den Kampf ab der vierten Runde an sich
Denn Tyson Fury nahm den Kampf ab der vierten Runde an sich. Noch immer klammerte oder blockierte er nicht, stattdessen schlug er häufiger, variantenreicher, traf besser. Das war ebenfalls unerwartet. Denn Usyk gilt als ungewöhnlich schneller und kluger Boxer, der einen Fehler selten zweimal macht. Seine ständigen Attacken musste er zunehmend mit Kontern bezahlen, vor allem die kurze, ansatzlose Rechte Furys kam immer wieder durch.
In den kommenden Runden war es eben Tyson Fury, der den entscheidenden Schritt schneller war, das bessere Ende eines Schlagabtausches für sich hatte. Usyk wurde etwas ungenauer. Die Runden vier, fünf, sechs und sieben gingen an Fury. Oleksandr Usyk drückte zwar weiter, wirkte in dieser Phase aber ein bisschen ratlos. Normalerweise hat er nicht nur einen Plan B, sondern auch noch einen Plan C oder D im Ärmel. Ex-Weltmeister Anthony Joshua, der auch in Riad am Ring saß und ebenfalls größer und schwerer ist als Usyk, musste das in zwei Kämpfen auf die harte Tour lernen. Nun konnte er von außen sehen, wie es dazu kam.
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Denn ab der achten Runde wechselte Usyk immer wieder die Richtung, in der er um Fury herumging. Er veränderte Schlagwinkel, variierte Kombinationen. Fury traf ihn weiter häufig, besonders zum Körper, gelegentlich auch mal zu tief. Doch Usyk fing an, mit der ansatzlosen Linken - bei einem Linkshänder wie ihm der härtere Schlag - durchzukommen.
Der größere Mann hatte den Kampf nicht gewollt
Der größere Mann hatte den Kampf nicht gewollt, weil er gegen den kleineren Mann immer blöd aussehen würde, egal wie es ausgehen sollte. Auch Goliath hätte als Sieger keine gute Figur gemacht. Aber so wie die beiden boxten, war Größe plötzlich kein Thema mehr, zumindest nicht die physische. Die beiden taten das, was man sich von zwei Weltmeistern erhofft: Sie machten sich gegenseitig größer.
Tyson Fury begann bedenklich aus der Nase zu bluten und ein dickes Veilchen zu bekommen, dort, wo Usyks Linke ihn traf. Vor allem als Überhand, also in die Vorwärtsbewegung über die Führhand des Angreifenden hinein geschlagen, dabei verdoppelt sich die Wirkung dieses Schlags. In der neunten Runde also hatte Oleksandr Usyk anscheinend Plan E gefunden und Fury gelesen, wie man beim Boxen sagt. Er schoss seine harte Linke immer wieder in die Lücke, die Fury ihm ließ, und begann dem großen Mann zuzusetzen. Furys Nase blutete jetzt schwer.
Wenn die Nase schwillt, wird die Atmung schwierig, man muss den Mund offen stehen lassen, was das Kinn empfindlicher für Schlagwirkung macht. Und Usyk traf dieses Kinn häufig. So häufig, dass Tyson Fury den Schlägen nicht mehr beweglich ausweichen konnte und plötzlich schwer angeschlagen durch den Ring taumelte.
Das ganze Drama, das die Geschichtsbücher ja auch verlangen, damit der Eintrag eindrücklich wird, entfaltete sich. Tyson Fury, von dem man aus drei Kämpfen gegen Deontay Wilder weiß, dass er sich sogar von zerstörerischen K.-o.-Schlägen erholen kann, schwankte in der neunten Runde von Ringseil zu Ringseil, wie ein Wrestler, der einen Getroffenen spielt. Es war fast rührend anzusehen, wie sein Körper sich weigerte zu Boden zu gehen, obwohl sein Geist ausgeknipst war. Zuerst rettete ihn der Ringrichter, der ihn nicht direkt aus dem Kampf nahm, sondern anzählte. Dann kam der Gong zum Ende der neunten Runde.
Beide Boxer mögen und respektieren sich
Zu diesem Zeitpunkt waren die "Usyk"-Rufe in der Halle überlaut geworden, die Zuschauer standen und vermutlich waren auch in den Sportbars und Privathaushalten weltweit die Fans von den Sitzen gesprungen. Und zwar sowohl die Fans von Usyk wie die von Fury, vielleicht lagen sich sogar einige in den Armen. Beide sind schließlich nicht nur Ausnahmeboxer, sondern auch Ausnahmecharaktere, wie sie nur dieser spezielle Beruf hervorbringt. Dass sie sich mögen und respektieren, konnte man sogar durch die Beleidigungen durchhören, die Tyson Fury vor einem Kampf für jeden seiner Gegner bereithält. Beide sind obendrein hoch gläubig, was im Boxen erstaunlich häufig vorkommt. Es hat eben viel mit Glauben zu tun, wenn man sich mit einem Boxer auf diesem Niveau in den Ring traut. Vor allem mit dem unerschütterlichen Glauben an sich selbst. Und darauf kam es wohl auch in den letzten Runden an.
Die Champions gingen also in die zehnte Runde. Tyson Fury erholte sich, so wie er sich in geradezu gespenstischer Weise immer zu erholen scheint. Usyk war so klug, ihm nicht blindlings nachzusetzen und selber einen K.o. zu riskieren. Beide boxten weiter auf höchstem Niveau, auch in den letzten beiden Runden, die aussahen wie erste Runden bei anderen Schwergewichtskämpfen, so beweglich und schlagstark waren beide noch. Also blieb es hoch spannend bis zum Schluss.
Dann war einer der besten Schwergewichtskämpfe der Geschichte zu Ende. Der Sieg nach Punkten ging knapp, aber zu Recht an Oleksandr Usyk, der nun der erste unumstrittene Weltmeister seit Lennox Lewis ist. Tyson Fury sah die Sensation unmittelbar nach dem Kampf noch anders, aber wenn er die Aufzeichnung sieht, wird er seine Meinung vermutlich ändern. Immerhin drückte er Usyk von oben einen Kuss auf den Kopf und sagte, "well done!" Der Sieger weinte im Ring und rief "Slava Ukraini!" in die Halle, "hoch lebe die Ukraine". Einen wirklichen Verlierer gab es nicht. Nur zwei Könige, die sich noch in diesem Jahr ein zweites Mal messen wollen.