Was will Usain Bolt seinem Publikum denn noch Neues bieten bei den am Freitag beginnenden Leichtathletik-Weltmeisterschaften in London, seiner Abschiedsvorstellung auf der Laufbahn? Der Jamaikaner hat alles gewonnen, was es im Sprint zu gewinnen gibt, Olympia-Gold und WM-Titel, im Doppel- und im Dreierpack. Er ist alle Weltrekorde geflitzt, über 100, 200 und mit der Staffel über 4x100 Meter. Hätte er sich bei der WM vor sechs Jahren in Daegu nicht den Fauxpas erlaubt, wegen eines Frühstarts disqualifiziert zu werden, wäre er bei allen globalen Meisterschaftsfinals seit 2008 als Erster durchs Ziel gerauscht. Eine Wiederholungsschleife, die nun endet, so oder so. Neu wäre nur, wenn er am Samstagabend (22.45 Uhr) den 100-Meter-Endlauf verliert.
"Das wird nicht passieren, keine Sorge", beruhigte Usain Bolt in dieser Woche bei seinem einzigen öffentlichen Auftritt in London vor den Titelkämpfen. Bei dem kasperte der 30-Jährige so herum, wie man ihn kennt: Grimassen schneidend, Faxen machend. Er machte sich auch lustig über seine vermeintliche Außenseiterrolle, die aus der Ungewissheit über seine Form stammt. Der Rücken macht dem 1,95- Meter-Mann mehr zu schaffen denn je, er war zuletzt wieder häufig zur Behandlung beim Doktor Müller-Wohlfahrt in München. In London lässt er die 200 Meter sausen, einst seine erklärte Lieblingsstrecke, heute zu anstrengend. Bolt läuft nur noch die 100 Meter an diesem Wochenende und die Staffel am nächsten. Das reicht, um die Titelkämpfe zu prägen. Es gibt keinen Athleten, keinen Funktionär, der in diesen Tagen ohne eine Bemerkung zu Bolt und seiner Bedeutung davonkommt.
Dabei ist Usain Bolt in dieser Saison so selten gelaufen wie nie, sieht man mal von seinem Verletzungsjahr 2014 ab: dreimal nur, jeweils über 100 Meter. Richtig gefordert von namhaften Gegnern wurde er dabei weder daheim in Kingston (10,03 Sekunden), noch in Ostrava (10,06), noch in Monaco, wo er zuletzt mit 9,95 gestoppt wurde. "Das zeigt, dass ich mich in die richtige Richtung bewege", findet er. Ungeachtet des Umstands, dass in diesem Sommer schon sechs Sprinter schneller gewesen sind als er, solle man zu seinem Karriereende schon mal eine Schlagzeile vorbereiten, schlug Bolt vor: "Unschlagbar und unaufhaltsam."
Ach was, es sei doch nicht mehr zu übersehen, dass Bolt langsamer werde, spöttelte neulich der Kanadier Andre De Grasse, 22 Jahre alt. Der Olympia-Dritte galt bis zum Donnerstag als größter Herausforderer des elfmaligen Weltmeisters - dann sagte De Grasse seinen WM-Start wegen einer Oberschenkelverletzung ab. Eine Sorge weniger für Bolt, aber er tut sicher gut daran, die Bahn zu räumen, bevor sie ihn erwischen, die jungen Jäger. Schon bei der WM vor zwei Jahren in Peking hatte er sich bloß noch eine Hundertstelsekunde vor Justin Gatlin ins Ziel gerettet.
Das Thema Doping kommt Bolt gefährlich nahe
Der Amerikaner ist in London wieder dabei, wenn auch nicht mehr so furchterregend schnell wie noch vor zwei Jahren. Der 35-Jährige war bereits zweimal wegen Dopings gesperrt; auch dieses Thema verfolgt Bolt bei seiner Siegesserie. Zuletzt kam es ihm sogar gefährlich nahe.
Im Januar wurde sein Landsmann Nesta Carter des Dopings überführt; in einer eingefrorenen Probe von Olympia 2008 in Peking wurden bei Nachtests Spuren des Stimulanzmittels Methylhexanamin nachgewiesen. Zwei Monate später kam heraus, dass das Internationale Olympische Komitee (IOC) weitere verdächtige Proben aus Peking von jamaikanischen Sprintern ohne weiteres Verfahren zu den Akten gelegt hatte. Das hat freilich auch die Zweifel an Bolts Unbescholtenheit geschürt.
Im Nachgang zu Peking 2008 wurde jedenfalls nur Nesta Carter bestraft, der zufälligerweise bloß in der Staffel eingesetzt worden war. Die musste zwar die Goldmedaillen zurückgeben, was Bolts bis dahin makellose Bilanz von dreimal drei Olympiasiegen in den Jahren 2008, 2012 und 2016 trübte. Aber "das ändert nichts an meinem Vermächtnis", sagte er der französischen Sportzeitung L'Équipe.
Wohl wahr. Der Eindruck des Olympia-Triples von Peking hat sich längst im Gedächtnis eingebrannt, als Beginn einer unglaublichen Erfolgsserie. Bolt kann es sich längst leisten, nach der WM auf die lukrativen Diamond-League-Meetings in Zürich und Brüssel zu verzichten: Antritts- und Siegprämien machen nur noch einen verschwindend geringen Teil seines Einkommens aus. Das wird dank Sponsorengeldern auf fast 35 Millionen Dollar pro Jahr taxiert. Usain Bolt ist zweifellos die prominenteste Figur seines Sports, manche halten ihn für die personifizierte Leichtathletik, für den Weltverbandspräsident Sebastian Coe ist er zumindest eine Ikone: "Ich kann mir niemanden außer Muhammad Ali vorstellen, der so eine Wirkung auf seinen Sport hatte."
Nun hatte der Boxer Muhammad Ali in den Sechziger- und Siebzigerjahren allerdings auch eine politische Größe, die dem Sprinter Usain Bolt fehlt: Der besticht abseits des Sportplatzes vor allem mit Entertainer-Qualitäten - und der Botschaft, es von ganz unten nach ganz oben geschafft zu haben und doch irgendwie nahbar geblieben zu sein. Was in seiner Heimat Jamaika schon viel zählt. Sportlich gesehen hat jedenfalls noch keiner den Sprint so lange und so deutlich beherrscht wie der Jamaikaner. Der Amerikaner Carl Lewis war zwar auch zehn Jahre präsent, zwischen 1983 und 1993, aber er war nicht immer als Erster im Ziel, schon gar nicht über 200 Meter. Und im Grunde hätte man Lewis 1988 aus dem Verkehr ziehen müssen, als der US-amerikanische Verband vor den Olympischen Spielen von Seoul eine positive Dopingprobe seines Vorzeigeathleten unter den Tisch fallen und ihn weiterlaufen ließ.
Abgesehen von Lewis und Bolt konnte sich freilich nie ein Sprinter sehr lange an der Spitze halten, drei, vier Jahre sind in der Regel schon viel. Die Schnelligkeit ist ja die treuloseste Begleiterin eines Athleten: Sie verlässt ihn als erstes, wenn er nur ein wenig älter wird, und schmiegt sich an einen Jüngeren. Usain Bolt war in dieser Hinsicht eine Ausnahme, so wie er auch in anderen Aspekten eine war: Von allen Männern, die jemals die 100 Meter in 9,80 Sekunden oder weniger zurückgelegt haben, ist er der einzige, der nicht wegen Dopings belastet oder sogar gesperrt war. Ausgerechnet er, der Schnellste von allen mit seinem Weltrekord von 9,58 Sekunden über 100 Meter, 19,19 Sekunden über die doppelte Distanz. Ausgerechnet er, der Trainingsfaulste, wie er selbst immer wieder kokettiert hat. Er braucht sich jedenfalls nicht zu wundern, dass er eine gewisse Skepsis zurücklässt, wenn er sich von der Bahn verabschiedet.