Usain Bolt bei der Leichtathletik-WM:Die große Welle der Scheinheiligkeit

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Usain Bolts letzter Auftritt über 100 Meter verkommt zur surrealen Veranstaltung. Der einstige Dopingsünder Gatlin ist womöglich genau der Weltmeister, den sich der Sport verdient hat.

Kommentar von Saskia Aleythe, London

Auf der einen Seite des Stadions passierte genau das, was sich an diesem Abend abspielen sollte, nach dem letzten 100-Meter-Wettkampf von Usain Bolt. Der Jamaikaner mit dem Ansehen einer Sportikone lief seine Ehrenrunde im Londoner Olympiastadion und holte die Zuschauer noch einmal vor Begeisterung von ihren Sitzen, die Flagge um die Schultern gelegt. Winke Winke, Selfietime mit dem prägenden Sprinter der vergangenen neun Jahre. Einen, den es vielleicht nicht mehr geben wird.

Auf der anderen Seite des Stadions wagte Justin Gatlin ein paar schnelle Schritte über die Kurve der Tartanbahn, die amerikanische Flagge umgebunden. Er war es ja, der auf der Bahn unter Tränen zusammengesackt war nach seinem WM-Gold in 9,92 Sekunden und bei der Abschiedsshow des großen Spaßsprinters Bolt den Partycrasher gegeben hatte, was ein Großteil der Zuschauer überhaupt nicht witzig fand. Ausgerechnet Gatlin, der mehrfach als Dopingsünder aufgefallen war, dachten sich die meisten der 56 000 Zuschauer. Und buhten energisch.

Surreal ist das Wort, das diesen Abend prägen sollte, in mehrfacher Hinsicht. Der Goldgewinner wird ausgebuht, der Drittplatzierte am heftigsten gefeiert und über den Zweiten, Christian Coleman aus den USA, verlor schon kurz nach dem Lauf kaum jemand mehr ein Wort. Ein Szenario, das einen beklemmt zurücklassen musste. Andererseits: Der einst dopinggesperrte Justin Gatlin ist womöglich genau der Weltmeister, den sich der Sport verdient hat. Ein zynisches Schicksal, dass gerade er den vermeintlich unantastbaren Star in seinem letzten Sprintfinale, der Königsdisziplin der Leichtathletik, entthront.

Eigentlich sollte Gatlin lebenslang gesperrt werden

Gatlin war 2006 positiv auf Testosteron getestet worden, ihm stand dann eine lebenslange Sperre bevor, er galt als Wiederholungstäter nach einem Amphetamin-Befund im Jahr 2001. Doch weil er sich als Kronzeuge der amerikanischen Antidopingagentur anbot, wurde seine Sperre auf vier Jahre reduziert. Seit 2010 läuft er wieder offiziell Rennen, seit 2012 schneller als vor seiner Dopingsperre. Mit 35 Jahren ist er nun der älteste Weltmeister, den es über 100 Meter je gab, vier Zehntel über dem Weltrekord von Bolt. Bemerkenswerte Fakten, die der geneigte Leichtathletik-Fan kritisch zur Kenntnis nimmt. Solange es um Gatlin geht.

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Bolt, der Verehrte, Gatlin, der Verschmähte. Bolt, der Übertalentierte, Gatlin, der Übernatürliche. Die Rollen- und Sympathieverteilung ist längst klar verteilt, bei der WM 2015 wurde Gatlin schon ausgebuht, bei Olympia in Rio ebenso. Nur damals war er halt langsamer, oder Bolt noch schnell genug und so war das Fanherz beruhigt, wenn Gut gegen Böse siegte, wenn Jamaikas Supersprinter zum Gold hastete. Gatlin ist der überführte Doper, Bolt der ohne jemals positiven Dopingtest. So einfach kann die Welt sein.

Wer sie komplexer begreifen will, der sieht die Liste der zehn schnellsten 100-Meter-Läufer, von denen sich neun als dopingbelastet herausgestellt haben, alle außer Usain Bolt. Der stellt sich Fragen über seinen ehemaligen Staffelkollegen Nesta Carter, bei dem Nachtests von 2008 nun positiv ausgefallen sind, was auch Bolt das Staffelgold aus Peking gekostet hat. Der rätselt über die Vorzüge seines Diplomatenpasses, Indizien für gestoppte Ermittlungen der Weltantidopingagentur rund um Clenbuterolfunde jamaikanischer Sportler. Ach, Fragen gäb es viele.

Und so ergibt es sich, dass das Besondere an diesem Abend gar nicht die Niederlage von Usain Bolt war. Das Besondere an diesem Abend, dem 5. August 2017, war die Welle an Scheinheiligkeit, die durchs Londoner Olympia-Stadion wogte. Groß genug, um einige mitzureißen.

Hier geht es zum Zeitplan der Leichtathletik-WM.

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