Usain Bolt als Objekt der Wissenschaft:Kreuzung aus Kolibri und Leopard

Wie schnell kann ein Mensch laufen? Biomechaniker, Physiker, Mathematiker, Anthropologen und Trainingswissenschaftler grübeln über diese Frage. Die Weltrekorde von Usain Bolt befeuern dabei eine gewagte These: 100 Meter wären wohl in 8,99 Sekunden zu schaffen.

Michael Gernandt

Sir Usain - wie das klingt. "Sehr schön würde sich das anhören, wenn die Queen mich zum Ritter schlagen würde." Manchmal hat der bekannt fidele Welt- rekordsprinter von der Karibikinsel Jamaika wirklich außergewöhnliche Wünsche.

Usain Bolt of Jamaica reacts after being disqualified for a false start during the men's 100 metres final in Daegu

Auch für den Schnellsten gibt es ein zu schnell: Usain Bolt am 28. August 2011 nach seinem Fehlstart im 100-Meter-Rennen bei der WM in Daegu in Südkorea. 

(Foto: Reuters)

Unvorstellbar ist der doppelte Ritterschlag Ihrer Majestät auf die Schultern des Meisters vom schnellen Schritt freilich keineswegs. Wenn Usain Bolt im nächsten Jahr wegen der hohen Steuerabgaben auf seine Honorare keinen Bogen um London machen und stattdessen im Stadion von Stratford seine Olympiasiege von Peking wiederholen sollte, dann könnte die Queen durchaus zum Schwert greifen. Schon erstaunlich, was Schnelllaufen für Folgen haben kann: für Bolt bereits den Verdienstorden von Jamaika, den Ehrentitel Ambassador at large und jüngst den Ehrendoktorhut der Jura-Fakultät der University of Westindies in Kingston. Bald wird es ziemlich eng auf seiner Visitenkarte.

Für die Staatsinsignien kann er sich nichts kaufen, für den zuletzt vergebenen Titel indessen schon: Athlet des Jahres, zum dritten Mal schon, der Weltverband IAAF spendierte Bolt dafür 100.000 Dollar. War er aber wirklich die Nummer eins, war es nicht vielmehr so, dass Bolt 2011 vor allem wegen seiner wochenlang diskutierten Disqualifikation nach dem Fehlstart bei der WM in Daegu in die Schlagzeilen geriet? Die Athlet-des-Jahres-Würde also wieder nur ein Marketinginstrument, um die Königsdisziplin der Spiele 2012 in London frühzeitig ins Blickfeld zu rücken? Dort geht es am 5. August um Teil zwei eines anderen traumhaften Wunschs des Usain Bolt.

"Ich arbeite daran, eine Legende zu werden", hat er erklärt, "jeder kann Olympia einmal gewinnen, ich will es dreimal." Nach Peking 2008 auch Gold in London und in Rio 2016. Ein verwegenes Vorhaben! Bisher gelang nur Carl Lewis (1984 und 1988, nach Disqualifikation des Dopers Ben Johnson) eine Wiederholung des 100-m-Siegs. Keinem der Vorgänger können allerdings Sprintqualitäten nachgesagt werden, wie sie Bolt vorzuweisen hat. Selbst dem Heros von 1936 nicht, dem Vierfach-Olympiasieger Jesse Owens.

Rechtzeitig vor Beginn des Olympiajahres ist die Diskussion um Dr. Bolt nun wieder in Gang gekommen, angestoßen von einem Buch ("The fastest men on earth") des britischen TV-Journalisten Neil Duncanson. Erneut dreht es sich darum: Warum ist Bolt so schnell, und geht es generell noch schneller? Mehr als zwei Jahre hatten Biomechaniker, Physiker, Mathematiker, Anthropologen und Trainingswissenschaftler Zeit, den 9,58-Rekord des Jamaikaners bei der WM 2009 in Berlin zu ergründen. Scheibchenweise, als hätten sie alle Videos des Rekordlaufs in die Kernspinröhre gezwängt, analysierten sie den Sprinter, von Kopf bis Fuß.

Einig waren sich die Forscher in der Erkenntnis, dass der 1,96-Meter-große Bolt die gültigen physischen Sprintgesetze gebrochen hat, denen zufolge ein hoch gewachsener Läufer im ersten Drittel mehr Energie zur Beschleunigung aufbringen muss als ein kleiner (frühere Weltrekordler messen zwischen 1,75 m und 1,89 m). Und daher in diesem Abschnitt oft entscheidend langsamer ist. "Aber die ersten 30 Meter bereiten ihm keine schlaflosen Nächte", vermutet Dan Pfaff, der amerikanische Trainer des kanadischen 100-m-Olympiasiegers Donovan Bailey.

Warum Bolt trotz des Körpergrößenhandicaps meist vor der Konkurrenz ins Ziel kommt (zwei Niederlagen in vier Jahren), wird - neben Vorteilen wie Schrittlänge (2,44 m) durch extremen Kniehub und Anzahl der Schritte (41 beim Rekord, Zweiter Gay/USA 44) - in erster Linie auf ein hohes angeborenes Beuge- und Streckvermögen der Füße (Dorsiflexion) zurückgeführt. Es versetzt Bolt in die Lage, den Bodenkontakt zeitlich zu begrenzen und dennoch die Härte des Auftritts (1000 Pfund) optimal in Vorwärtsbewegung zu verwandeln.

Muskelfasern von Mensch und Tier kombinieren?

Der US-Speedcoach Mike Young spricht von einem "heiligen Triumvirat", das Bolt bevorteile: Beste Beschleunigung nach Landsmann Powell, höchste Schnelligkeitsausdauer, höchste Endgeschwindigkeit. Eine ergänzende Erklärung liefert Don Quarrie, 1976 Jamaikas erster Sprint-Olympiasieger (200 m), er sagt: "Usain hat den Sport revolutioniert, weil er es versteht, die Kraft des Relaxens zu nutzen." Gemeint ist: Schon nach 30, 40 Meter kann er freudig spielend vorauseilen. Seine mit Schnelligkeit "aufgeladene" Körpermasse (88 kg) versetzt ihn, wie beim Berliner Rekordrennen (im Schnitt 37,6 km/h), in die Lage, Spitze 45 km/h zwischen 60 und 80 m ohne Stress beizubehalten.

In die Bolt-Debatte und die Frage, wie schnell der Mensch denn rennen kann, sind, wenig überraschend, auch Genetiker eingeschaltet. Buchautor Duncanson berichtet von DNA-Experimenten in Kalifornien. Dort sei versucht worden, die schnell zuckenden menschlichen Muskelfasern, deren Anzahl verantwortlich ist für das Sprintvermögen, zu manipulieren.

Und ein Entwurf Frankensteinschen Ausmaßes fabuliert davon, die Muskelfasern von Sprintern unter den Tieren, Kolibris, Leoparden, Antilopen, mit denen des Menschen zu kombinieren. "Wenn dieser technische Trick gelingen würde, dann geschähen wirklich verrückte Dinge, wir würden radikal schneller", sagt Peter Weyand, Physiologe an der Southern Methodist University (Dallas). Ein Monster findet man im Buch "The Perfection Point" des Sportwissenschaftlers John Brenkus (USA): Unter Berücksichtigung aller Einflüsse und Möglichkeiten könne jemand eines Tages 8,99 sprinten, schreibt er. Weyand hält diese utopische Zeit für nicht ausgeschlossen: "Mein Gefühl sagt mir, dass wir sie noch erleben. Es wird geleitet von den Incentives (Anreizen) des modernen Sports."

Alles eine Frage, wie der "Waffengang ausgeht zwischen Regelhütern des Sports und denen, die versuchen, die Technologie an ihre Grenzen zu pushen", sagt Biomechaniker John Hutchinson (London). Wohl wahr, das ist die Herausforderung der Zukunft.

Die Gegenwart: Noch wird sie von Bolt und den 9,58 Sekunden bestimmt. Ein Vorstoß in den 9,4-Sekunden-Bereich wäre schon in Berlin möglich gewesen, wenn statt der gemessenen 0,9 m/sek Rückenwind gerade noch legale 2,0 m/sek geblasen hätten. Ob Gene, zum Beispiel das so genannte Speedgen ACTN3, zuständig für die Muskelkontraktion, bei Bolt eine Rolle spielen, ist noch unbekannt. Martin Munzer, Chef des CyGene Labors in Coral Springs (Florida), glaubt, dass "eine Übereinstimmung gewisser Gene" Voraussetzung für Bolts Erfolg ist. "Es spielen alle möglichen Faktoren hinein. Zufällig oder absichtlich", sagte er der Los Angeles Times.

Wie immer das zu verstehen ist, es muss die Frage erlaubt sein: ist beim Doktor honoris causa wirklich alles Natur angesichts seiner Leistungssprünge (2007: 10,33, 2008: 9,69, 2009: 9,58) und der erwiesenen Dopingmentalität im Jamaika-Sprint?

"Usain Bolt ist absolut sauber", hat Arne Ljungqvist (Schweden), Medizinkommissionschef im Internationalen Olympischen Komitee, Ende 2009 versichert, wohl wissend, dass man nach den Erkenntnissen aus dem Fall der jahrelang negativ getesteten Doperin Marion Jones für Niemanden die Hand ins Feuer legen kann. Und Duncanson schildert Bolts "einzigen Seitensprung: Er hat mit 13 mal versucht, eine Zigarette zu rauchen; er hasste es". Na, dann ist ja alles in bester Ordnung.

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